Psychotherapieverfahren der DDR –
Musiktherapie

Kurzbeschreibung des Verfahrens

Die Musiktherapie ist ein weitgehend nonverbales handlungsorientiertes Verfahren, bei dem die Patienten Musik hören, diese aber auch selbst reproduzieren können. Dabei zielt das Verfahren auf eine sowohl psychische als auch somatische Wirkung ab.  Es wird zwischen der Aktiven Musiktherapie und der Rezeptiven Musiktherapie unterschieden, die sich wiederum jeweils in gruppenmusiktherapeutische und einzelmusiktherapeutische Verfahren unterteilen lassen. Bei der Aktiven Musiktherapie nehmen die Patienten am musikalischen Geschehen teil, indem sie zum Beispiel singen, klatschen, stampfen oder Instrumente verwenden. Handelt es sich um ein Gruppensetting, also um eine aktive Gruppenmusiktherapie, wird zwischen der Instrumentalimprovisation, der gerichteten Gruppensingtherapie, der ungerichteten Gruppensingtherapie, der Bewegungsimprovisation nach Klassischer Musik und der Tänzerischen Gruppenmusiktherapie. Bei diesen Verfahren steht die musikalisch-nonverbale Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern im Fokus. Die Patienten können sich je nach Verfahren mit körperlichen Ausdrucksformen, Instrumenten, durch gemeinsames Singen oder durch gemeinsames Tanzen ausdrücken. Abhängig von der spezifischen Aufgabenstellung und Gruppendynamik nehmen die einzelnen Gruppenmitglieder unterschiedliche wechselnde Rollen zueinander ein. Der therapeutische Handlungsablauf wird vom jeweiligen Therapeuten intendiert, aufrechterhalten und gesteuert.

Die Rezeptive Gruppenmusiktherapie setzt sich aus drei Verfahren zusammen: der Dynamisch orientierten Rezeptiven Gruppenmusiktherapie, der Reaktiven Gruppenmusiktherapie und der Regulativen Musiktherapie (RMT). Hier steht das Hören von Musik im Zentrum. Dabei unterscheiden sich allerdings die therapeutischen Ziele der jeweiligen Behandlung. Während die RMT durch ihren Trainingscharakter und das Erlernen von Regulationstechniken gekennzeichnet ist, fokussieren die anderen beiden Verfahren jeweils Gruppenprozesse, die Verbesserung von Eigen- und Fremdwahrnehmung, die Auslösung affektiv-emotionaler Prozesse und eine generelle Konfliktauseinandersetzung.

Zeitliche Einordnung

Die von Christoph Schwabe in Leipzig entwickelte Musiktherapie bietet den Vorteil, dass sie unmittelbarer auf die emotionalen Aspekte der Persönlichkeit einwirken kann als rein verbale Therapieansätze. Besonders in der Kombination mit psychotherapeutischen Gesprächen kann sie ihre Wirksamkeit entfalten – wobei interdisziplinäre Zusammenarbeit hierbei eine große Rolle spielt. Ein zentrales Element der frühen musiktherapeutischen Praxis wird die Gruppensingtherapie, mit der Schwabe in der Leipziger Klinik als Basistherapie beginnt. In den späten 1960er Jahren und bis hinein in die 1970er Jahre werden die Methoden der Musiktherapie weiter ausdifferenziert. Dabei wird ausgetestet, welche Vorgehensweisen am besten funktionierten. Der Untersuchungsfokus liegt hierbei auf der Funktion der Musik, der Gruppe und ihren unterschiedlichen Dynamiken, sowie auf Indikationen, Kontraindikationen und den therapeutischen Zielsetzungen der Musiktherapie.

Die Geschichte der in der DDR entwickelten Musiktherapie beginnt mit der Anstellung Christoph Schwabes an der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig im September 1960. Schwabe erhält die Aufgabe, den Aufbau und die Implementation der Musiktherapie vor Ort zu fördern. Bemerkenswert dabei ist, dass dieser erst zwei Jahre zuvor an derselben Universität ein Berufsverbot erhalten hat. Überdies ist er kein Mediziner, sondern kommt aus den Bereichen der Musikwissenschaft und -pädagogik. Ziel der Leipziger Klinik ist es, ein komplexes Methodensystem innerhalb der Psychotherapie zu etablieren, das verschiedene Verfahren, unter anderem die Musiktherapie, indikationsabhängig kombiniert und verstärkt. Es gibt zunächst allerdings nur vage Vorstellungen darüber, wie eine Musiktherapie gestaltet werden könnte. Musik ist zuvor nur selten Teil von Psychotherapie gewesen. Daher besteht die Herausforderung nun darin, etwas völlig Neues zu entwickeln, das bislang nicht existierte.

Ein entscheidender Meilenstein wird die erste wissenschaftliche Tagung zur Musiktherapie mit internationaler Beteiligung im Frühjahr 1969. Zum ersten Mal werden in Deutschland und im internationalen Kontext konzeptionelle sowie empirisch-experimentelle Forschungsansätze der Musiktherapie auf einer größeren Ebene diskutiert. Die Organisation und Durchführung dieser Tagung ist zwar mit politischen Schwierigkeiten verbunden, dennoch führt sie dazu, dass das Leipziger Konzept der Musiktherapie größere Bekanntheit erlangt und international richtungsweisende Bedeutung erlangt. In der Folge erhält Schwabe den Auftrag, ein Berufskonzept für zukünftige Musiktherapeuten auszuarbeiten – ein Vorhaben, das letztlich aufgrund von Machtkämpfen innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP) der DDR scheitert. Im gleichen Jahr werden wichtige organisatorische Strukturen geschaffen: Die Sektion Musiktherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR und die Arbeitsgemeinschaft Musiktherapie der Gesellschaft für Rehabilitation in der DDR werden gegründet. In enger Kooperation werden zahlreiche Lehrgänge in verschiedenen Städten durchgeführt, um die Musiktherapie weiter zu etablieren. In dieser Zeit entstehen auch in anderen Bezirken der DDR neue Psychotherapieeinrichtungen, die nicht nur das Leipziger Psychotherapiekonzept übernehmen, sondern auch die dort weiterentwickelte Musiktherapie integrieren. So entwickeln sich in den 1970er Jahren mehrere Zentren für unterschiedliche musiktherapeutische Verfahren, unter anderem in Rostock, Berlin und Uchtspringe. Eine weitere institutionelle Verankerung der Musiktherapie wird maßgeblich beeinflusst durch den Zusammenbruch der bis 1989 bestehenden Strukturen im DDR-Gesundheitswesen. Die Musiktherapie gilt im wieder vereinten Deutschland nun nicht mehr als kassenärztlich anerkannte Psychotherapie. Trotz dieser Umstände hat sich die Musiktherapie nach Schwabe bis zum heutigen Zeitpunkt stetig weiterentwickelt und wird sowohl im klinisch-psychiatrischen Kontext als auch in sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern eingesetzt.

Besonderheiten in der DDR

Im Gegensatz zu verschiedenen anderen Psychotherapiemethoden wird die Musiktherapie in der DDR entwickelt und erlangt nachfolgend auch internationalen Bekanntheitsgrad.

Begründer

Christoph Schwabe begründet die Regulative Musiktherapie im Rahmen der Entwicklung eines musiktherapeutischen Methodensystems. Er veröffentlicht hierzu mehrere Grundlagentexte, die wesentlich zur Verbreitung der RMT beitragen.

Publikationsbeispiele

Kohler, C., Böttcher, H. F., Schwabe, C., Wilda-Kiesel, A. & Schwarz, B. (1968). Kommunikative Psychotherapie. VEB Gustav Fischer Verlag.

Schwabe, C. (1978). Methodik der Musiktherapie und deren theoretischen Grundlagen. Leipzig: Johann Ambrosius Barth Verlag.

Schwabe, C. (1983). Aktive Gruppenmusiktherapie für erwachsene Patienten. Stuttgart u.a.: Thieme Fischer.

Quellen und Literatur

Haase, U. (o. D.). Das Musiktherapeutische Konzept nach Schwabe. Christoph Schwabe Website. https://www.christoph-schwabe.de/musiktherapie

Schwabe, C. (1979). Standortbestimmungen der Regulativen Musiktherapie in der Medizin. In C. Schwabe (Hrsg.), Regulative Musiktherapie (1., Aufl.). Jena: VEB Gustav Fischer Verlag.

Schwabe, C. (1986). Methodik der Musiktherapie. In C. Schwabe (Hrsg.), Methodik der Musiktherapie und deren theoretische Grundlagen (2. überarb. Aufl.), S. 159-229. Leipzig: J. A. Barth.

Schwabe, C. (2011). 1960 – 1969: Beginnende Institutionalisierung. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 190-196. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schwabe, C. (2011). 1970 – 1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 316-325. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schwabe, C. (2011). 1980 – 1989: Wege der Emanzipation. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 537-341. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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