Klinik für Psychiatrie
der Karl-Marx-Universität Leipzig

Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung

Die Psychotherapieabteilung der Universität Leipzig durchläuft während ihrer Zeit ab 1953 in der DDR verschiedene konzeptionelle Phasen und Entwicklungen, die zu ihrer Zeit in den ostdeutschen Psychotherapiestandorten maßgeblich zu Veränderungen beitragen. Dazu gehören vor allem Dietfried Müller-Hegemanns „Pawlow’sche Schlaftherapie“ und Christa Kohlers „Kommunikative Psychotherapie“.

Therapeutische Strömungen und Behandlungssetting

Da die unterschiedlichen therapeutischen bzw. konzeptionellen Strömungen wesentlich von den damaligen Abteilungsleitenden beeinflusst wurden, wird anhand der Zeiträume ihrer Beschäftigung am Standort eine historische Einteilung in Phasen vollzogen. Diese wird in ähnlicher Art und Weise auch in anderer Literatur zur Geschichte der Abteilung aufgeführt.

Die „Schlaftherapieabteilung“ unter Dietfried Müller-Hegemann und Harro Wendt –
1953-1961

Harro Wendt und Margit Wendt stehen schon zu dieser Zeit analytischen Konzeptionen offen gegenüber, welchen D. Müller-Hegemann distanziert gegenüberstand. Nichtsdestotrotz lässt er zunächst methodische Freiräume und die konzeptionellen Unterschiede belasten die Abteilung zu Beginn kaum, da H. Wendt auch die Schlaftherapie als „gut funktionierende […] Routinemethode“ einschätzt und in Kombination mit anderen Methoden anwendet. Diese Kombinationstherapie implementiert er schon früh in seiner Zeit als Abteilungsleiter, mit Hypnose, später mit Autogenem Training. Auch erste Versuche der Gruppentherapie werden in der Abteilung unternommen. Die Schlaftherapie stellt aber dominant das Hauptverfahren dar und vor allem zu Beginn der Abteilung wird sie konsequent durchgeführt. 1959 erfolgt der Umzug in die Karl-Tauchnitz-Straße 25 („KT“).

D. Müller-Hegemann wird 1952 zum Direktor der Klinik für Psychiatrie der Karl-Marx-Universität Leipzig berufen und errichtet ein Jahr später die Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung. Er übergibt die Leitung an Harro Wendt und teils dessen Frau Margit Wendt. Zu dieser Zeit herrscht eine „Pawlow-Welle“ in Osteuropa, die ausgehend von der Pawlow-Konferenz in Moskau 1950 mit einflussreichen Arbeitstagungen in den folgenden Jahren in der DDR, auch in Leipzig, weiter verbreitet wird. Die Reflexionstheorie Pawlows wird als „theoretische Leitlinie der Psychologie“ erklärt. Dies setzt den Rahmen für D. Müller-Hegemanns „Pawlow-Therapie“, die vor allem durch die Pawlow’sche Schlaftherapie charakterisiert ist. 1957 veröffentlicht er das erste Psychotherapielehrbuch der DDR – Ein Leitfaden für Ärzte und Studierende, aus dem sich therapeutische Grundsätze der Abteilung unter ihm ableiten lassen. Besonders die Einsicht und übende Verfahren sieht er als zentrale Wirkfaktoren der Psychotherapie („Rationale Psychotherapie“), die „im Gegensatz zu psychogenetisch orientierten und anderen mit Spekulationen belasteten Lehren“ stehe. Weiter misst er der sportlichen Betätigung sowie der Gruppentherapie eine besondere Bedeutung bei.

Die Behandlung in der „KT“ unter H. Wendts Leitung integriert das von allen Patienten als Standardverfahren erlernte autogene Training mit Ruhesuggestionen (von H. Wendt eingesprochen), Texte zur Selbstbesinnung und Musikbeiträge vom Tonband, die in den Patientenzimmern zu festen Tageszeiten eingespielt werden. Schon zu dieser Zeit stellt H. Wendt fest, dass die Verbindung von Musik mit dem Schwere- und Wärmeerlebnis [des autogenen Trainings] zu besseren Trainingsergebnissen führe. Durch H. Wendt kommt es zu einer „analytischen Prägung des Gesamtkonzepts der Abteilung“, auch mit analytisch orientierten Einzelgesprächen. Die konzeptionellen Verschiedenheiten tragen wohl zu Diskrepanzen in Chefvisiten zwischen ihm und D. Müller-Hegemann bei. H. Wendt gibt 1961 letztendlich die Leitung der Abteilung ab und beginnt gemeinsam mit Infrid Tögel, im Bezirkskrankenhaus Uchtspringe eine „psychoanalytisch orientierte Psychotherapie“ aufzubauen.

“Kommunikative Psychotherapie” unter Christa Kohler – 1962-1975

Nach H. Wendts Verlassen der Klinik wird Christa Kohler Abteilungsleiterin. Doch auch C. Kohler löst sich von den konzeptionellen Auffassungen D. Müller-Hegemanns und der Pawlow‘schen Schlaftherapie ab.

Nach D. Müller-Hegemanns Ausscheiden aus der Klinik entfaltet C. Kohler ab 1965 einen eigenen Ansatz, den sie „Kommunikative Psychotherapie“ nennt. 1968 wird erstmalig die Gesamtkonzeption der Kommunikativen Psychotherapie in Kohlers Psychotherapielehrbuch „Kommunikative Psychotherapie“ vorgestellt. Wichtige Rollen neben ihr spielen außerdem etwa Anita Wilda-Kiesel (vgl. Kommunikative Bewegungstherapie), Christoph Schwabe und Hermann Fried Böttcher.

C. Schwabe nährt einen Ast der Kommunikativen Psychotherapie und entwickelt eine theoretische und methodologische Grundlage für die Musiktherapie. Er begründet die Regulative Musiktherapie, die Aktive Gruppenmusiktherapie und die Sozialmusiktherapie.

Ab dem Jahr 1973 wird C. Kohler aus krankheitsbedingten Gründen wiederholt auf der Abteilung inaktiv, bis sie diese schließlich Mitte 1975 verlässt. Auch H. F. Böttcher, A. Wilda-Kiesel und C. Schwabe scheiden innerhalb weniger Jahre aus. Jedoch bleiben sie an der Entwicklung der genannten Verfahren beteiligt. Gemeinsam sind sie in der „Erfurter Gruppe“ aktiv.

Zur Zeit von C. Kohlers Ausscheiden, von 1973 bis 1975, führt H. J. Wild die Klinik unter ihrem Konzept der Kommunikativen Psychotherapie weiter, während die tiefenpsychologisch-analytischen und sozialpsychologischen Anteile tiefer in der Einzel- und Gruppentherapie ausgebaut werden. Auch verhaltenstherapeutische und suggestive Methoden finden Anwendung und werden zusammen mit dem sozialen Bereich (Selbsthilfegruppen, Patientenselbstverwaltung) in die Therapie integriert.

Die Jahre bis zur friedlichen Revolution – 1975-1992

Die Arbeitsgruppe um Klaus Weise, darunter ihr neuer Abteilungsleiter Helmut R. Starke, führt die Abteilung um 1975 stärker in eine Richtung der Gesprächspsychotherapie nach Rogers und Tausch im Einzel- wie Gruppensetting. H. R. Starke orientiert sich an psychodynamischen wie gesprächstherapeutischen Verfahren und absolviert 1973 bei Johannes Helm seine Ausbildung zum Gesprächspsychotherapeut.

Die Teilnahme der Therapeuten an den Kommunitätsangeboten am Haus der Gesundheit Berlin unter Kurt Höck von 1977 bis 1979 führen zu einer Auseinandersetzung über die geeignete Therapiemethode der Einrichtung. Letztendlich kommt es zu einer Harmonisierung des therapeutischen Geschehens und einer Ausrichtung nach tiefenpsychologisch-analytischen Aspekten (etwa Einführung des Katathymen Bilderleben). Mit Michael Geyers Übernahme der Leitung im Jahr 1983 verstärkt sich die psychodynamische Orientierung.

Forschung und Lehre

Im Bereich der Neurosenforschung steht das umfangreiche Forschungsprojekt “Psychonervale Störungen” im Mittelpunkt, das der zentralen Frage nachgeht, wie sich die Leistungsanforderungen an die Werktätigen unter den veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen auf die psychische Gesundheit auswirken. Die Ergebnisse dieses Projekts werden 1971 von K. Höck, H. Szewczyk und H. Wendt im Buch Neurosen veröffentlicht.

Unter C. Kohlers Leitung von 1962 bis 1975 werden zahlreiche Publikationen veröffentlicht, die Abteilung gestaltet Forschungsprojekte in der DDR mit, steht im Austausch mit Ungarn und Polen und veranstaltet Symposien. Es werden Vorlesungsinhalte zu Psychologie und Psychotherapie im Medizinstudium implementiert und die eigenen Mitarbeitenden und Ärzte der Klinik werden kontinuierlich weitergebildet, z.B. durch Klinikhospitationen und in Lehrgängen für Psychotherapie der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR in den Jahren 1974/75 (ca. 80 Teilnehmer, insg. vier Wochen). 1972 wird außerdem das Berufsbild “Fachphysiotherapeut für funktionelle Störungen und Neurosen” etabliert.

In den 1970er-Jahren stellt H. R. Starke epidemiologische Psychotherapiebedarfsforschungen an, insbesondere bezogen auf Therapieziele und den Therapieprozess. Allgemein wird in den 1980-Jahren systematisch Therapieforschung durchgeführt. So werden im Rahmen der Habilitationen Günter Plöttners und Peter Winieckis 1989 neue prozessbegleitende Verfahren erprobt und mit der Prozess- und Ergebnisforschung verbunden.


Entwicklung des Standorts

Auf Initiative von D. Müller-Hegemann erfolgt 1960 in Leipzig die Gründung der “Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in der DDR (GÄP)”.

Durch C. Kohlers Beiträge hat die Psychotherapeutische Abteilung ab etwa Mitte der 1960er-Jahre zwischenzeitlich einen selbstständigen Status erlangt und eine “Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung des Bereichs Medizin” wurde etabliert.  

Die Klinik wird in den 1980er-Jahren zur meist frequentierten Ausbildungsstätte Mitteldeutschlands, es entstehen Lehrbücher und Lehrmaterialien für die psychosomatische Grundversorgung und die psychodynamische Psychotherapie und sie wird zu einem Organisationszentrum der Psychotherapiekongresse der 1980er-Jahre.

Ab 1986 werden außerdem Forschungsbeziehungen zu westdeutschen Einrichtungen aufgebaut.

Im September 1990 folgt schließlich die Umbenennung in „Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin“. Diesen Namen trägt die Abteilung bis heute.

Leitungen (über die Jahre):

  • 1953-1961: Harro Wendt, zeitweise Margit Wendt
  • 1961-1973: Christa Kohler
  • 1973-1975: H. J. Wild
  • 1974-1983: Klaus Weise (kommissarisch), Helmut R. Starke
  • 1983-1992: Michael Geyer

Quellen und Literatur

Angermeyer, M. C. & Steinberg, H. (Hrsg.). (2005). 200 Jahre Psychiatrie an der Universität Leipzig: Personen und Konzepte. Springer-Verlag.

Böttcher, H. F. & Wilda-Kiesel, A. (2011). Von der Schlaftherapieabteilung der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie zur Selbständigen Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung an der Universität Leipzig. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 181-186. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Geyer, M. (2011). Die Universitätsklinik für Psychotherapie und Psychosomatik Leipzig in den 1980er Jahren. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 560-563. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Höck, K. (1979). Psychotherapie in der DDR – Eine Dokumentation zum 30. Jahrestag der Republik.

Müller-Hegemann, D. (1957). Psychotherapie. Ein Leitfaden für Ärzte und Studierende. VEB Verlag Volk und Gesundheit.

Plöttner, G. (2011). Psychotherapie in der „KT“ 1970-1980. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 388-391 Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schwabe, C. (2011). Entwicklungsbedingungen und Entstehen des ersten klinisch orientierten musiktherapeutischen Methodensystems in der deutschen Psychotherapielandschaft 1960–1969. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 190-195. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schwabe, C. (1964). Erfahrungen mit der Musiktherapie als Teil einer Psychotherapie von Neurosen. Zeitschrift für Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie, 16, S. 385-390.

Schwabe C. (1969). Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen. Jena: Fischer.

Schwabe C. (1979). Regulative Musiktherapie. Jena: Fischer.

Schwabe C & Haase, U. (Hrsg). (1989). Die Sozialmusiktherapie (SMT). Crossen: Akademie für Angewandte Musiktherapie.

Schwabe C. & Röhrborn, H. (1996). Regulative Musiktherapie. Jena: Fischer.

Tögel, I. (2011). Die Psychotherapie-Abteilung an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 95-98. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Tögel, I. (1964). Über Erfahrungen mit einigen psychotherapeutischen Hilfsmethoden. Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, 16(11), S. 412-419.

Universitätsklinikum Leipzig. (o. D.). Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. https://www.uniklinikum-leipzig.de/einrichtungen/psychiatrie-psychotherapie

Wilda-Kiesel, A. (2011). Gruppengymnastik und ihre Ziele in der Abteilung für Psychotherapie der Universität Leipzig im Rahmen der Pawlow’schen Schlaftherapie von 1960 bis 1963. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 186-187. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Wilda-Kiesel A. (1987). Kommunikative Bewegungstherapie. Leipzig

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