
Akteur

Prof. Dr. med. Rudolf Lemke (1906–1957)
Psychiater, Hochschullehrer, Lehrstuhlinhaber
Rudolf Lemke deckte ein breites psychiatrisch-neurologisches Themenspektrums ab. Eine genaue Festlegung seiner Schwerpunkte in klinischer und wissenschaftlicher Hinsicht ist schwierig. Seine umfangreichen Kenntnisse in der Nervenheilkunde spiegeln sich deutlich in seinem umfassenden Lehrbuch „Neurologie und Psychiatrie. Grundlagen für Studium und Praxis“ wider, das weit über die im Titel formulierten Ansprüche hinausgeht. Zudem hatte er Einfluss auf die Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie in der DDR. Besonders bekannt wurde er durch die Einführung des Fachbegriffs „Vegetative Depression“ in die psychiatrische Literatur.
Das Konzept der vegetativen Depression nach Lemke
Lemke definierte die vegetative Depression als eine Sonderform der depressiven Erkrankung, die durch eine vorwiegend vegetative Dysfunktion geprägt ist. Dabei stehen körperliche Beschwerden und eine ängstliche Stimmung im Mittelpunkt. Er betonte, dass die Beschwerden oftmals initial von ihren Trägern als rein somatisch wahrgenommen werden, erst später jedoch psychische Symptome und Stimmungen sichtbar werden. Lemke sah die Bedeutung der Angst bei der Entstehung dieser Form der Depression, indem er diese sowohl als aus einer Angstvorstellung heraus entstanden als auch durch psychische Belastungen oder schreckhafte Erlebnisse begünstigt ansah. Das Krankheitsbild sei durch periodische körperliche Beschwerden gekennzeichnet, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Herzrasen und gastrointestinalen Symptomen, die häufig im Zusammenhang mit Stimmungsschwankungen und Suizidgedanken auftreten.
Lemkes Konzept der vegetativen Depression war eine frühe Bemühung, eine spezielle Form der depressiven Erkrankung zu beschreiben, bei der körperliche Beschwerden dominieren. Trotz Kritik und Weiterentwicklungen in der Klassifikation hat die Diskussion um klassische „vegetative“ oder „maskierte“ Depressionen bis heute Bestand. Die Herausforderung liegt weiterhin darin, körperliche Beschwerden richtig zu deuten und eine adäquate, ganzheitliche Therapie zu gewährleisten. Lemkes Arbeiten zeigen, dass die Beziehung zwischen Körper und Seele in der Psychiatrie komplex ist und eine genaue Differenzialdiagnose auch heute noch von zentraler Bedeutung ist.
Der Versuch, eine Ordnung der seelischen Leiden zu schaffen, führt an die ganze Problematik der psychiatrischen Diagnostik; sie ist nach sehr vielen Ebenen hin ausgerichtet.
Lemke, Rudolf: Über die Ordnung der psychiatrischen Krankheitsbilder, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 4 (8), 1952, S. 235–239, hier S. 235.Porträt
1906 | 6. April: in Gollnow bei Stettin geboren |
1923–1928 | Abitur an der Oberrealschule in Jena, anschließend Medizinstudium an der Universität Jena, 1925 Wechsel nach Wien, Freiburg, Berlin, Staatsexamen und Promotion zum Thema „Geschichtliche Darstellung der Theorien über die Entstehung des Krebses“ in Jena |
1928–1931 | Assistent an der Medizinischen Klinik und am Pathologischen Institut in Jena, ab 1930 am Diakonissenkrankenhaus in Dresden |
1931–1942 | Assistenzarzt an der Jenaer Psychiatrischen und Nervenklinik unter Hans Berger, 1935 Habilitation zum Thema „ „Untersuchungen über die soziale Prognose der Schizophrenie unter besonderer Berücksichtigung des encephalographischen Befundes“, 1942 außerplanmäßige Professur |
1934–1945 | Beisitzer am Erbgesundheitsobergericht Jena, ab 1939 in Sanitätsabteilung, Unterarzt, ab 1941 Leiter der Nervenabteilung des in Jena untergebrachten Lazaretts |
1945–1950 | Übernahme der kommissarischen Leitung der Jenaer Nervenklinik, 1947 Entnazifizierung, 1949 ordentlicher Professor für Psychiatrie und Neurologie, 1950 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Neurologie |
1956 | Auf Vorschlag Lemkes wird die Klinik nach dem Schöpfer der Elektroenzephalographie in „Hans-Berger-Klinik„, benannt |
– 1934 Reichskammer für bildende Künste – 1939 Mitglied der NSDAP – 1946 Mitglied der SED (1951 Austritt aus „religiösen Gründen“) – 1956 Vorsitzender der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR – Vorsitzender der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie in Jena – Herausgeber des Zentralblattes für Neurochirurgie | |
1957 | 27. Oktober: Tod in Jena |

(Anfang der 1930er Jahre)


Künstlerische Vielfalt und Grenzen des Dilettantismus
Rudolf Lemke war neben seiner medizinischen Karriere auch als Maler aktiv. Bereits 1929 unternahm er einen Studienaufenthalt in Italien, und in den frühen 1930er Jahren wurde seine Kunst mehrfach positiv gewürdigt, so etwa bei Ausstellungen in Jena, Berlin und Bremen. Kritiker lobten seine Fähigkeit, Farbe und Form ausdrucksstark einzusetzen, wobei sein Werk vielseitige Einflüsse der modernen Kunst, insbesondere des Fauvismus und der naiven Malerei, aufweist. Lemke arbeitete häufig mit unterschiedlichen Stilen, doch fehlte es ihm an einem eigenständigen, klar erkennbaren Stil. Seine Bilder umfassen Porträts, Landschaften und religiöse Motive, wobei er oft auf bekannte Künstler Bezug nahm. Einige Werke spiegeln persönliche oder zeitgeschichtliche Themen wider, wie etwa das Porträt Ricarda Huchs oder religiöse Darstellungen wie „Verspottung Christi“. Das Niveau seiner Malerei wird – im Gegensatz zu seinem Jenaer Kollegen Erich Drechsler – als dilettantisch eingeschätzt, da ihm das handwerkliche Können und die künstlerische Originalität fehlten. Insgesamt bleibt sein künstlerisches Werk eine Mischung aus Einflüssen, das eher als Ausdruck persönlicher Neigungen denn als eigenständige künstlerische Linie zu verstehen ist.
Auswahl Publikationen
Lemke, Rudolf: Neurologie und Psychiatrie. Grundlinien für das Studium und die Praxis, Leipzig 1956.
Lemke, Rudolf: Über die vegetative Depression, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 1 (6), 1949, S. 161–166.
Lemke, Rudolf: Über die parainfektiöse Encephalomyelitis, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 2 (3), 1950, S. 65–71.
Lemke, Rudolf: Bericht über einen Paranoiker, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 3 (4), 1951, S. 99–104.
Lemke, Rudolf: Über die Bedeutung der Leibgefühle in der psychiatrischen Diagnostik, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 3 (11), 1951, S. 325–340.
Lemke, Rudolf: Über die posttraumatische Multiple Sklerose, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 3 (3), 1951, S. 63–71.
Lemke, Rudolf: Über die Ordnung der psychiatrischen Krankheitsbilder, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 4 (8), 1952, S. 235–239.
Lemke, Rudolf: Das enthemmte Kind mit choreiformer Symptomatik, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 5 (8), 1953, S. 290–294.
Lemke, Rudolf: Über vegetative Anfälle bei Sella-Anomalie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 5 (1/2), 1953, S. 34–39.
Lemke, Rudolf: Neurologische Befunde bei Schizophrenen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 7 (8), 1955, S. 226–229.
Lemke, Rudolf: Zum klinischen Bild der Muskeldystrophie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 7 (10), 1955, S. 286–291.
Lemke, Rudolf: Klinische Epilepsiediagnosen und EEG-Befund, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 8 (10), 1956, S. 289–291.
Lemke, Rudolf: Die Sprache bei der depressiven Verstimmung, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 9 (4), 1957, S. 106–114.
Lemke, Rudolf; Rennert, Helmut: Psychiatrische Themen in Malerei und Graphik, Jena 1958.
Lemke, Rudolf; Rennert, Helmut: Neurologie und Psychiatrie sowie Grundzüge der Kinderpsychiatrie. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis, Leipzig 1970 (5. Auflage).
Quellen und Literatur
Lemke, Rudolf: Über die Ordnung der psychiatrischen Krankheitsbilder, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 4 (9), 1952, S. 268–273.
Thormann, Julia; Himmerich, Hubertus; Steinberg, Holger: Das Konzept der „vegetativen Depression“ (1949) von Rudolf Lemke – Ein obsoletes Konzept?, in: Psychiatrische Praxis 38 (2), 2011, S. 91–96.
Gerhard, Uwe Jens; Schönberg, Anke: Der malende Nervenarzt Rudolf Lemke (1906–1957), in: SDGGN 20, 2014, S. 531–550.