Akteur

Prof. Dr. med. Karl Leonhard (1904–1988)

Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie an der Charité der Humboldt-Universität Berlin

Wegbereiter der modernen Psychiatrie in der DDR

Karl Leonhard zählt zu den bedeutendsten deutschen Psychiatern des 20. Jahrhunderts. Seine systematische Einteilung der endogenen Psychosen und seine langjährige Leitung der Charité in Ost-Berlin machten ihn zu einer prägenden Figur der psychiatrischen Wissenschaft in der DDR. Mit über 1.500 dokumentierten Fällen trug er entscheidend zur wissenschaftlichen Fundierung der Psychiatrie bei. Auch nach seiner Emeritierung 1970 blieb er wissenschaftlich aktiv. Seine nosologischen Konzepte werden bis heute diskutiert, insbesondere im Zusammenhang mit der Debatte um die phänomenologische Psychopathologie.

Wenn ich später nicht nur die Psychiatrie, sondern auch die Neurologie liebgewann, so liegt dies an der systematischen Ordnung, die man bei vielen Nervenkrankheiten vorfindet. Dies kam meiner Neigung zu einem ordnenden Denken entgegen.

Karl Leonhard, zit. nach Schulze, Heinz Albert Friedrich: Geleitwort. Herrn Prof. emer. Karl Leonhard zum 80. Geburtstag, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie (Beiheft) 33, 1986, S. 9–10, hier S. 10.

Porträt

190421. März: Karl Leonhard wird in Edelsfeld (Oberpfalz) als 6. von 11 Kindern geboren.
1925 – 1929Medizinstudium in Erlangen, Berlin und München, 1928/1929 Promotion zum Thema: „Über kapillarmikroskopische Untersuchungen bei zirkulären und schizophrenen Kranken und über die Beziehungen d. Schlingenlänge zu bestimmten Charakterstrukturen“ und Approbation
1929 –1936Assistentsarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Erlangen, 1931 Wechsel an die an die Heil- und Pflegeanstalt Gabersee
1937Habilitation zum Thema „Die defektschizophrenen Krankheitsbilder. Ihre Einteilung in zwei klinisch und erbbiologisch verschiedene Gruppen und in Unterformen vom Charakter der Systemkrankheiten“
1936 – 1955Oberarzt für Psychiatrie und Neurologie an der Universitätsnervenklinik Frankfurt am Main unter Karl Kleist, später unter Jürg Zutt
1937Eintritt in die NSDAP, Berufung zum Dozenten
1944Berufung zum außerordentlichen Professor an der Universitätsnervenklinik Frankfurt am Main
1946Leonhard wird durch ein Spruchkammerurteil in die Gruppe 4 der Mitläufer der NS-Zeit eingereiht und muss eine „Geldsühne“ entrichten
1955Berufung nach Erfurt als Direktor der Nervenklinik an der dortigen Medizinischen Akademie der Städtischen Krankenanstalten
1957Berufung an die Humboldt-Universität zu Berlin und die Ernennung zum Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin. Unter seinem Direktorat wird die Berliner Nervenklinik zur zentralen Institution in der DDR und weit über deren Grenzen hinaus bekannt.
1960 – 1972Chefredakteur der einzigen Fachzeitschrift „Psychiatrie, Neurologie, Medizinische Psychologie“
1962 – 1964Ruf als Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an die Universität Frankfurt, die Bemühungen werden sowohl von west- als auch ostfdeutscher Seite torpediert. Leonhard entsheidet sich, in Berlin zu bleiben. Er erhält die Zusage einer Weiterbeschäftigung nach seiner Emeritierung an der Humboldt-Universität.
1970Emeritierung, arbeitet wissenschaftlich weiter an der Nervenklinik der Charité
1980Verleihung der Karl-Bonhoeffer-Medaille in Anerkennung hervorragender wissenschaftlicher Leistungen auf dem Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie
198823. April: Tod Karl Leonhards in Berlin/Ost

Wirken

Karl Leonhard widmete sein Lebenswerk der systematischen Klassifikation endogener Psychosen. Aufbauend auf Carl Wernicke und Karl Kleist entwickelte er eine eigenständige Typologie, die auf genauer Beobachtung, Familienuntersuchungen und Langzeitverläufen beruhte. In seinem Hauptwerk „Aufteilung der endogenen Psychosen“ (1957) unterschied er phasische Psychosen (z. B. manisch-depressiv), zykloide Psychosen, unsystematische und systematische Schizophrenien. Seine Differenzierung wurde später durch empirische Studien bestätigt.

Besonders betonte Leonhard die Bedeutung katatoner Symptome. Für ihn hatten psychomotorische Auffälligkeiten höheren diagnostischen Wert als Wahn oder Halluzinationen. Genetische Befunde, etwa zur periodischen Katatonie, unterstützten seine Hypothesen. In späteren Werken befasste er sich intensiv mit frühkindlicher Katatonie und forderte eine genaue entwicklungspsychopathologische Analyse.

Neben der Diagnostik entwickelte Leonhard auch therapeutische Konzepte, insbesondere zur Individualtherapie bei Neurosen. Seine Methode setzte auf die gezielte Behandlung von Persönlichkeitsstrukturen und wurde in einer eigenen Abteilung klinisch umgesetzt. Ergebnisse wurden 1963 in „Individualtherapie der Neurosen“ veröffentlicht.

In der Neurologie beschrieb Leonhard neue Formen von Aphasie und Antriebsstörungen und erkannte Parallelen zwischen neurologischen und psychischen Systemerkrankungen. Trotz Kritik an seinem stark biologischen Ansatz beeinflusste Leonhard die deutschsprachige Psychiatrie nachhaltig – als Vertreter einer differenzierten, phänomenologisch orientierten Krankheitslehre.

Leonhards Auseinandersetzung mit Helmut Rennerts Universalgenese

Leonhard reagierte respektvoll, aber entschieden auf Rennerts Universalgenese: Er sah in Helmut Rennert einen international bekannten, lehnte dessen einheitspsychotische Sichtweise jedoch methodisch ab. Für Leonhard war psychiatrische Forschung vorrangig eine empirische Aufgabe: Diagnosen müssten trennbar, prognostisch verwertbar und daher exakt klassifiziert werden. Er warf den Vertretern der Einheitspsychose vor, Krankheitsformen eher zu vermischen als zu ordnen, und hielt Rennerts Modell trotz gewisser Berührungspunkte mit älteren Einheitsideen für empirisch unzureichend. Praktischen Nutzen sah er nur in einer differenzierten Nosologie, die auf klaren, reproduzierbaren Befunden beruht; Untersuchungen etwa zu monopolarer und bipolarer Verlaufsform stützten seine Sicht. Zudem kritisierte Leonhard, dass Rennerts Universalgenese viele Ursachen annimmt, diese aber nicht präzise genug aufschlüsselt – solange die kausalen Faktoren nicht genau benannt und geprüft seien, sei das Modell theoretisch, aber von begrenztem Aussagewert.

Auswahl Publikationen

Leonhard, Karl: Über differenzierte Diagnostik und differenzierte Therapie der endogenen Psychosen: Bemerkungen zu einem Fall von Schockschädigungen des Gehirns, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 8 (10), 1956, S. 291–295.

Leonhard, Karl: Aufteilung der endogenen Psychosen, Berlin 1957.

Leonhard, Karl: Die cycloiden, meist als Schizophrenien verkannten Psychosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 9 (12), 1957, S. 359–365.

Leonhard, Karl: Über Korrelationen zwischen Persönlichkeit, Lebensgeschichte und Herzkrankheit, Jena 1960 (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Psychiatrie und Neurologie. – Jena : Fischer, 1950-1980.

Leonhard, Karl: Individualtherapie der Neurosen, Jena 1962.

Leonhard, Karl: Akzentuierte Persönlichkeiten, Berlin 1968.

Leonhard, Karl: Zum Problem der Nosologie der endogenen Psychosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Beiheft 15, 1972, S. 1–12.

Leonhard, Karl: Ist die Individualtherapie eine Verhaltenstherapie?, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 25 (12), 1973, S. 726–735.

Leonhard, Karl: Gegen die Auffassung einer Einheit Schizophrenie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 27 (2), 1975, S. 65–79.

Leonhard, Karl: Akzentuierte Persönlichkeiten, Stuttgart New York 1976.

Leonhard, Karl: Genese der zykloiden Psychosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 33 (3), 1981, S. 145–157.

Leonhard, Karl: Psychosoziale Ursachen der Schizophrenien trotz ihrer somatischen Grundlage, in: Eichhorn, Hans; Ernst, Klaus (Hg.): Arbeitsmaterialien des Symposiums «Erfahrungen und Ergebnisse der Psychotherapie in der Psychiatrie», Ueckermünde 1985, S. 17–31.

Leonhard, Karl: Differentialdiagnose und verschiedene Ätiologie der monopolaren und bipolaren phasischen Psychosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 39 (9), 1987, S. 524–533.

Weiterführende Literatur

Neumärker, Klaus-Jürgen: Karl Leonhard (1904–1988). Psychiater und Neurologe an der Charité in Berlin, in: Nervenheilkunde 4, 2008, S. 327–333.

Leonhard, Karl: Meine Person und meine Aufgaben im Leben: Professor Dr. med. Karl Leonhard 1904-1988 : Autobiographisches und Einführung in seine grundlegenden wissenschaftlichen Auffassungen, hg. v. Leonhard, Volkmar, Hildburghausen 1995.

Schulze, Heinz Albert Friedrich; Neumärker, Klaus-Jürgen; Kühne, Gert-Eberhard: Karl Leonhard 21.3.1914 – 23.4.1988, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie Zeitschrift für die gesamte Nervenheilkunde und Psychotherapie 40. Jahrgang (9), 09.1988, S. 513–515.

Kumbier, Ekkehardt: Helmut Rennert: ein Antipode Karl Leonhards? Zur Entstehungsgeschichte der Universalgenese der endogenen Psychosen, in: Impulse für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in der Lebensspanne: Festschrift zum 75. Geburtstag von Herrn Prof. Dr. Klaus Ernst, Rostock, 2011, S. 1–18.

Braun, Birgit: Karl Leonhard (1904-88) and his academic influence through the «Erlangen School», in: History of Psychiatry 32 (2), 06.2021, S. 195–209. Online: .

Neumärker, Klaus-Jürgen: Die «Individualtherapie der Neurosen» von Karl Leonhard in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité Berlin, in: Geyer, Michael (Hg.): Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, Göttingen 2011, S. 99–105.

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