
Entwicklungsaspekte
der Psychotherapie
Über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung rückt die Psychotherapie in der DDR zunehmend ins wissenschaftliche Interesse, insbesondere im Blick auf ihre Eigenentwicklung trotz sowjetischer Einflüsse wie dem Pawlowismus. Michael Geyer (2011) beschreibt die Entwicklung der Psychotherapie in der DDR beginnend mit dem anfänglich ideologisch begründeten Pawlowismus und einer Ablehnung der Freud’schen Lehre. Es folgen eine zunehmende Institutionalisierung, Methodenentwicklung, der stationäre Aufbau von Versorgungsstrukturen. Schließlich mündet die Entwicklung in eine Phase der Emanzipation. Dabei entwickelt sich ausgehend von der ersten am 01.10.1949 gegründeten psychotherapeutischen Einrichtung der DDR – der „Psychotherapeutischen Behandlungsstelle“ im Haus der Gesundheit in Berlin – eine umfangreiche Methodenvielfalt mit Katathymem Bilderleben, Autogenem Training, Hypnose, Schlaftherapie, Individualtherapie, Verhaltenstherapie, kommunikativer Psychotherapie, Bewegungstherapie, Musiktherapie, klientenzentrierter Gesprächspsychotherapie, Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, suggestologischer Psychotherapie und psychoanalytischer Einzeltherapie.
In den Anfangsjahrzehnten der DDR-Psychotherapie spielten einige Persönlichkeiten eine herausragende Rolle bei der Etablierung und Weiterentwicklung des Fachs. Dazu gehörten Alexander Mette, der als Pionier im Aufbau psychotherapeutischer Strukturen in der DDR gilt, sowie Alfred Katzenstein, der wesentliche Beiträge zur praktischen Anwendung und zur klinischen Ausbildung leistete. Dietfried Müller-Hegemann, bekannt für sein Engagement an der Schnittstelle von Psychiatrie, Philosophie und marxistischer Ideologie, setzte sich für eine humanistische, am Subjekt orientierte Psychotherapie ein. Harald Schultz-Hencke wiederum brachte tiefenpsychologische Perspektiven ein, die in der DDR zunächst kritisch betrachtet, später aber in reformierten Ansätzen aufgegriffen wurden. Die frühen Jahre der DDR-Psychotherapie waren stark durch den Einfluss des sowjetischen Pawlovismus geprägt. Der Fokus lag auf neurophysiologischen Erklärungsmodellen psychischer Störungen und auf Behandlungsmethoden wie der sogenannten Schlaftherapie, bei der Medikamente zur künstlichen Schlafverlängerung eingesetzt wurden. Erst in den 1960er-Jahren setzte ein allmählicher Wandel ein: Gesprächspsychotherapie und verhaltenstherapeutische Verfahren gewannen an Bedeutung, teilweise in stiller Opposition zur offiziellen Wissenschaftsdoktrin. Dies markierte den Beginn einer vorsichtigen Öffnung gegenüber westlichen psychotherapeutischen Schulen. In den 1970er- und 1980er-Jahren erlebte die Psychotherapie in der DDR eine Phase zunehmender Professionalisierung. 1978 wurde der Zweitfacharzt für Psychotherapie eingeführt – eine formale Anerkennung, die auch der klinischen Praxis mehr Gewicht verlieh.

Zudem etablierte sich eine Vielzahl neuer Methoden, darunter Verfahren wie das Katathym-Imaginative Bilderleben, das auf der Arbeit mit inneren Bildern und Vorstellungen basiert. Es entwickelte sich auch die Intendiert Dynamische Gruppenpsychotherapie (Strauß et al., 2022). Eine qualitative Analyse der Tagungs- und Symposieninhalte der Sektion für Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR aus den Jahren 1969–1990 zeigt, dass zunächst praxis- und theorieorientierte Themen dominierten, während ab Ende der 1970er-Jahre auch Forschungsaspekte zunehmend Bedeutung erhielten und in den 1980ern sehr relevant wurden. Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie bildete den methodischen Schwerpunkt der Sektion von 1974 bis 1986. Ab 1990 zeigte sich eine thematische Ausdifferenzierung: Neben Gruppenmethoden standen nun auch sozialisationstheoretische und pädagogische Fragen sowie die Behandlung verschiedener Altersgruppen im Mittelpunkt.
Es zeigt sich eine Entwicklung von einer praxis- und theoriegeleiteten Form hin zu einem reflektierten, forschungsorientierten Diskussionsraum, der auf gesellschaftliche Veränderungen und professionelle Standards reagierte (Karkossa, Bauer, Strauß, 2023).
Diese Entwicklungen trugen dazu bei, dass Psychotherapie als eigenständiger Bereich innerhalb der Medizin und Psychiatrie sichtbar wurde, auch wenn sie weiterhin ideologisch reguliert blieb.
Quellen und Literatur
Geyer, M. (2011). Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945–1995. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Höck K. (1979). Psychotherapie in der DDR. Eine Dokumentation zum 30. Jahrestag der Republik. Teil 1. Berlin.
Karkossa, J. K., Bauer, M. & Strauß, B. (2023). Die Sektion für Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR–Eine Qualitative Inhaltsanalyse der Arbeitstagungen und Symposien im Zeitraum von 1969–1990. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 59(2), 87-103.
Malich, L. (2020). The history of psychological psychotherapy in Germany: The rise of psychology in mental health care and the emergence of clinical psychology during the 20th century. In: Oxford Research Encyclopedia of Psychology.
Steinberg, H. (2016). 25 Jahre nach der „Wiedervereinigung “: Der Versuch einer Übersicht über die Psychiatrie in der DDR. Teil 2: Von pluralistischen Betrachtungsweisen und dem Zusammenbruch in den 1980er Jahren. Fortschritte der Neurologie·Psychiatrie, 84(05), 289-297.
Strauß, B., Kirschner, H., Paripovic, G., Storch, M. & Gallistl, A. (2022). Aufarbeitung der DDR-Psychotherapie als transdisziplinäres Forschungsfeld. Die Psychotherapie, 67(5), 420-429.