
Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
an Universitätskliniken in der DDR
Die ersten Abteilungen für Kinder- und Jugendliche in deutschen psychiatrischen Universitätskliniken entstanden bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Entstehungsbedingungen waren sehr unterschiedlich, was eine gesonderte Betrachtung erforderlich macht. Wissenschaftliche Arbeiten und historische Studien haben die Entwicklung dieser Einrichtungen dokumentiert, ergänzt durch autobiografische Berichte. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Westdeutschland zunehmend als eigenständiges Fach etabliert.
In der DDR begann die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie später, doch auch hier entstanden in den 1950er Jahren eigene Lehrstühle und Abteilungen. In Rostock wurde bereits 1952 eine eigenständige kinderpsychiatrische Abteilung eingerichtet, 1958 folgt die offizielle Gründung eines Lehrstuhls. Helmut Rennert, der 1956 eine Professur erhielt, prägte die Wissenschaft mit seinen Arbeiten wesentlich. Seither etablierte sich Rostock als eine führende Einrichtung in der DDR.
Institutionelle Entwicklung und Personalpolitik in der DDR
Bereits in den 1920ern gab es Bestrebungen, eine Abteilung für psychopathische Kinder einzurichten. Nach dem Krieg wurden erste kinderpsychiatrische Stationen aufgebaut, die an die universitären Kliniken angebunden waren. 1953 entstand eine kleine kinderpsychiatrische Abteilung am Rostocker Universitätsklinikum, die 1958 zu einer eigenständigen Abteilung und später zum Lehrstuhl ausgebaut wurde. Franz Günter von Stockert hatte einen großen Anteil an der Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie in Rostock, bevor er aus politischen Gründen die DDR verließ.
Gerhard Göllnitz, der 1958 auf den Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Rostock berufen wurde, war maßgeblich an der Etablierung dieses Fachgebiets beteiligt. Er legte den Grundstein für die wissenschaftliche Arbeit im Bereich der frühkindlichen Hirnschädigung und prägte die Entwicklung der DDR-Kinderneuropsychiatrie maßgeblich. Ebenso spielte Helmut Rennert eine zentrale Rolle. Er führte die Rostocker Klinik ab 1958 an die Spitze und veröffentlichte wichtige Lehrbücher sowie Forschungsarbeiten. Besonders seine Arbeiten zur Nosologie der Psychosen waren wegweisend.
1962 wurde die Sektion Kinderneuropsychiatrie innerhalb der DDR-Gesellschaft für Psychiatrie gegründet. Sie organisierte Weiterbildungen, internationale Symposien und beteiligte sich an Forschungsprojekten wie „Defektives Kind“ und „Hirngeschädigte Kinder“.
Wissenschaftliche Schwerpunkte an der Universität Rostock
Göllnitz spezialisierte sich auf die Erforschung der neurobiologischen Grundlagen von Entwicklungs- und Persönlichkeitsstörungen bei Kindern. Seine Arbeiten umfassten die Frühdiagnose, Frühtherapie und die Langzeitrehabilitation von Hirnschädigungen. Die Rostocker Klinik wurde in den 1970er Jahren zu einer führenden Einrichtung in der Kinder-Neuropsychiatrie. Zentrale Forschungsprojekte waren das Programm „Das defekte Kind“ (ab 1969) und „Hirngeschädigte Kinder“ (ab 1981). Die enge Zusammenarbeit mit anderen kinderpsychiatrischen Zentren in Ostdeutschland diente der empirischen Forschung, Epidemiologie, Diagnostik und Behandlung. Diese Forschungsansätze trugen maßgeblich zur Etablierung der Kinderneuropsychiatrie in der DDR bei.
In den 1980er Jahren wurden die Einrichtung und die Forschungsinfrastruktur der Rostocker Kinderneuropsychiatrie deutlich erweitert. Ein Neubau, die Optimierung der Versorgung sowie die Etablierung einer eigenständigen Klinik innerhalb des Zentrums für Nervenheilkunde ermöglichten eine bessere Betreuung und Forschung.
Bis 1980 waren 159 Subspezialisten für Kinderneuropsychiatrie anerkannt worden. Trotz Fortschritten stand die Kinderneuropsychiatrie vor enormen Herausforderungen, vor allem im Ausbau dervambulanten Betreuung und in der Verbesserung der regionalen Infrastruktur. In den peripheren Großkrankenhäusern lebten viele Kinder und Jugendliche unter schlechten Bedingungen.

In der DDR blieb man im Gegensatz zu internationalen Trends bei der Zusammenführung von Neuro- und Kinderpsychiatrie. Wirtschaftliche, organisatorische und medizinische Gründe spielten eine Rolle. Es wurde betont, dass eine Trennung die biologischen Grundlagen vieler Syndrome vernachlässigen könnte. Zudem war die enge Zusammenarbeit mit pädiatrischen Fachgebieten wichtig, da Kinder das zentrale Anliegen beider Disziplinen sind. Die kinderneuropsychiatrische Praxis profitierte von den Kenntnissen der Pädiatrie, etwa bei Frühgeborenen, Anfallsleiden oder neuromuskulären Erkrankungen. Neurophysiologische Verfahren wie EEG oder Szintigramme waren zwar bedeutsam, konnten aber aufgrund der begrenzten pädiatrischen Ausbildung oft nur eingeschränkt zuverlässig eingesetzt werden.
Kinderneuropsychiatrie an der Universität Jena
Der frühere Klinikdirektor Hans Berger, bekannt für die Elektrophysiologie, beschäftigte sich intensiv mit kinderpsychiatrischen Fragen und gilt als eine bedeutende Figur in der Jenaer Klinik. Nach seinem Wirken kam Rudolf Lemke, der ab 1948 die Leitung der Kinderpsychiatrie in Jena übernahm, zum Zuge und prägte maßgeblich die Entwicklung des Fachbereichs.
Lemke war von 1948 bis 1957 für die Institutionalisierung der Kinderpsychiatrie in Jena verantwortlich. Er etablierte 1950 eine eigene Kinderstation und 1952 eine neuropsychiatrische Abteilung. Während seiner Amtszeit setzte er modernste Therapien wie Insulinschock und Psychopharmaka ein und integrierte heilpädagogische und psychotherapeutische Ansätze. Lemke verfasste zahlreiche Publikationen, wobei seine Arbeiten meist deskriptiv, manchmal spekulativ waren. Er beschäftigte sich mit den Ursachen neurologischer Störungen im Kindesalter, vor allem nach Enzephalitis und Geburtskomplikationen, und entwickelte eine eigene Klassifikation für Anfallsleiden. Besonders bekannt wurde seine Arbeit zur Hyperkinese des Kindes aus dem Jahr 1953. Seine Beschäftigung mit Kinder- und Jugendpsychiatrie legten die Grundlagen für eine spezialisierte Behandlung und Forschung in diesem Fachgebiet in Jena.
Kinderneuropsychiatrie an der Universität Leipzig
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kinderneuropsychiatrie in Leipzig wieder aufgebaut. Die Abteilung wurde 1949 in das neugegründete Institut für Nervenheilkunde integriert und später in eine eigenständige Klinik umgewandelt. Unter der Leitung von Christian Wieck, der die Abteilung bis 1964 führte, wurde sie rasch zu einer bedeutenden Einrichtung im Süden der DDR, die weit über Leipzig hinaus bekannt war. Die Zusammenarbeit zwischen Medizin und Pädagogik stand im Mittelpunkt. 1954 wurde die Abteilung der Volksbildung zugeordnet, 1957 entstand eine eigene Sonderschule, 1958 wurde der ambulante Schulteil erweitert. 1965 wurde die Klinik Teil der Karl-Marx-Universität. Seit dem 1. Januar 1976 bildete die Kinderneuropsychiatrische Klinik eine selbständige Struktureinheit und erhielt ein Ordinariat des Bereiches Medizin der Karl-Marx-Universität mit eigenem Lehrstuhl, den Heinz Gebelt inne hatte.
Quellen
Göllnitz, Gerhard: Stand und Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 33 (10), 1981, S. 606–609.
Häßler, Frank; Kölch, Michael; Kumbier, Ekkehardt u. a.: Vergleich der stationären Kinderpsychiatrie 1960 und 2015 in Rostock, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 69 (8), 11.2020, S. 737–748.
Gerhard, U. J.; Gerhard, C.; Blanz, B.: Rudolf Lemkes Bedeutung für die Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie in Jena, in: Der Nervenarzt 78 (6), 2007, S. 706, 708–712.
Gebelt, Heinz: Die Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 30 (5), 1978, S. 257–262.
Weiterführende Literatur
Kumbier, Ekkehardt: Die Entstehungsgeschichte der Kinderneuropsychiatrie an den Universitäten der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Universität Rostock, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. – Würzburg : Königshausen & Neumann 16, 2010, S. 353–371.
Luka, Karolina: Kinderneuropsychiatrie in Ueckermünde 1960: Analyse der stationären Klientel des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Ueckermünde 1960 : eine Vergleichsanalyse zwischen der Versorgung der Patienten in einem Kommunalkrankenhaus (Ueckermünde) und in einer Universitätsklinik (Rostock) in der DDR, Universität Rostock Med. Fak., Rostock, 2020.