
Akteur

Prof. Dr. med. Helmut Rennert (1920–1994)
Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Führender Fachverteter der universitären Psychiatrie in der DDR
Helmut Rennert war einer der führenden Fachvertreter der Psychiatrie in der DDR. Seine Karriere begann Anfang der 1950er Jahre in Jena und führte ihn an die Universität Halle. Er etablierte bedeutende Forschungsfelder, wie das Modell der „Universalgenese“ der Psychosen, das die Pathogenese der Psychosen als einheitlich ansah und in der internationalen Psychiatrie große Beachtung fand. Rennert prägte die wissenschaftliche und klinische Entwicklung maßgeblich, leitete Fachgesellschaften und verfasste Standardwerke, die Generationen von Neuropsychiatern in der DDR beeinflussten. Außerdem war er auch in die internationale Wissenschaft eingebunden.
Meine Überlegungen [zur Universalgenese] gehen bis auf das Jahr 1946 zurück, als ich an der Nervenklinik Jena begann und bei der damaligen Ärzteknappheit gleich als Stationsarzt in der geschlossenen Männerabteilung eingesetzt wurde […] dieses von Fachwissen, Erfahrung, freilich auch von Resignation kaum belastete Herangehen an die Psychosen [war] von großem Nutzen für mich.
Helmut Rennert, Die Universalgenese der endogenen Psychosen – Ein Beitrag zum Problem „Einheitspsychose“, in: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie 33 (1965), S. 251–272, hier S. 269.Porträt
1920 | 14. Februar: Helmut Rennert wird in Dessau geboren. |
1938 – 1946 | Wehrmachtssoldat, kann dennoch sein Studium fortsetzen, wird 1946 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen |
1939 – 1944 | Studium der Medizin in Leipzig, ab 1942 in Jena, 1944 mit dem Staatsexamen und Promotion zum Thema „Das zellmikrochemische Verhalten von Kupfer in Leber und Niere nach Zufuhr von Natriumcuprothiosulfat“ beendet |
1946 –1958 | Assistents- später Oberarzt an der an der Universitäts-Nervenklinik in Jena, 1952 Habilitation zum Thema „Die Scham und ihre psychiatrische Bedeutung: Eine Abhandlung über das Schamgefühl und seine Merkmale vom Standpunkte der medizinischen Psychologie, Physiologie und Psychiatrie, gleichzeitig ein Beitrag zur naturwissenschaftlichen Lehre von den Affekten“, Leiter der kinderneuropsychiatrischen Abteilung |
1956 | Professur mit Lehrauftrag für Kinderpsychiatrie |
1957 – 1958 | Nach dem frühen Tod von Rudolf Lemke Übernahme der kommissarischen Leitung der Universitäts-Nervenklinik Jena |
1958 | Berufung auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Universität in Halle, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Neurologie, erst elf Jahre später wird Rennert zum ordentlichen Professor für das Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie ernannt. |
seit 1965 | Mitglied in der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, vertritt von 1978 bis 1989 als Vizepräsident den medizinischen Bereich |
1960er – 1980er Jahre | Vorsitzender der Fachgesellschaft für Neurologie und Psychiatrie der DDR wie auch der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg sowie Ehrenmitglied internationaler Fachgesellschaften |
1980 | Verleihung der Karl-Bonhoeffer-Medaille in Anerkennung hervorragender wissenschaftlicher Leistungen auf dem Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie |
1984 | Emeritierung aus gesundheitlichen Gründen |
1994 | 23. August: Tod Helmut Rennerts in Halle/ S. |
Der Generationswechsel in der DDR-Nervenheilkunde
Gegen Ende der 1950er Jahre vollzog sich an den Hochschulen der DDR ein fundamentaler Wandel in der Führung der medizinischen Fakultäten. Ein neuer, jüngerer Lehrergeneration trat an die Stelle der in den Vorjahren dominierenden, mitunter älteren, teilweise auch ideologisch belasteten Professoren. Dieser Generationswechsel, der auch die Fachrichtung der Nervenheilkunde betraf, wurde maßgeblich durch politische Vorgaben, den Ausbau des medizinischen Hochschulwesens sowie die Notwendigkeit, qualifizierte Fachkräfte für die Versorgung und Forschung in der DDR zu gewinnen, geprägt. Im Gegensatz zu den Vorgängergenerationen zeichneten sich diese Nachfolger durch eine günstige Verbindung aus politischer Loyalität und wissenschaftlicher Qualifikation aus.
Die zweite Generation, meistens zwischen den späten 1950er und den frühen 1960er Jahren berufen, bestand aus Ärzten, die meist ihre akademische Ausbildung vor oder kurz nach dem Krieg absolviert hatten. Sie waren zwar junger, aufstrebender Nachwuchs, aber oftmals auch durch ein konservatives, bürgerliches Bildungsbürgertum geprägt, dessen wissenschaftliche Wurzeln in der vor-nationalsozialistischen Zeit lagen. Politisch stimmten sie zwar grundsätzlich mit der DDR-Regierung überein – was für ihre Karriere oft Voraussetzung war –, eine enge Bindung an die Partei war aber nicht immer gegeben.
Helmut Rennert: führender Vertreter der zweiten Hochschullehrergeneration
Helmut Rennert war einer der bedeutendsten Vertreter dieser neuen Hochschullehrergeneration. Seine wissenschaftliche Karriere begann mit Arbeit über die Psychopathologie des Kindesalters, doch bald wandte er sich der Psychiatrie zu. Nach der Übernahme der Leitung der Jenaer Klinik und später in Halle setzte er bedeutende Impulse in der Entwicklung der medizinischen und wissenschaftlichen Ausrichtung der DDR-Psychiatrie – insbesondere durch die Etablierung seines Modells der Universalgenese der Psychosen. Dieses Konzept stand im starken Gegensatz zu den traditionellen, auf die Einteilung endogener Psychosen nach Kraepelin basierenden Theorien und betonte vielmehr die prinzipielle Einheitlichkeit der Pathogenese der meisten psychischen Erkrankungen.


Der Einfluss der „Universalgenese“-Theorie
Helmut Rennert argumentierte, dass alle Psychosen – vom affektiven bis zum schizophrenen Spektrum – einem gemeinsamen, einheitlichen Krankheitsprozess zugrunde liegen. Die Unterschiede in den Erscheinungsformen seien lediglich die Folge verschiedener Begleitumstände und der jeweiligen Konstellation durch genetische, somatische, funktionelle, soziale oder äußere Faktoren. Die Diagnose wurde bei ihm daher weniger durch Kategorien, sondern vielmehr durch die Zusammenstellung charakteristischer Syndrommerkmale anhand eines breiten Spektrums erklärt. Dieses Konzept war wegweisend für eine verständnisorientierte, nicht-stigmatisierende Betrachtung psychischer Erkrankungen in der DDR. Es trug dazu bei, die vielfältigen Erscheinungsbilder psychischer Störungen systematisch zu erfassen und als Variationen eines einheitlichen Krankheitsgrundes zu begreifen.
Rennert stellte Karl Leonhards Typologie der endogenen Psychosen seine eigene Universalgenese gegenüber. Aus der Spannung beider Ansätze entwickelte sich über Jahrzehnte eine fruchtbare fachliche Debatte, die auch auf DDR-Tagungen intensiv geführt wurde. Rennert würdigte Leonhards detaillierte, differenzierte Beschreibungen und erkannte deren Nutzen für die klinische Praxis und die biologische Forschung an. Er bezeichnete die Auseinandersetzung mit Leonhard als hilfreich für die Überprüfung und Weiterentwicklung seiner eigenen Gedanken und sprach von kollegialer Toleranz. Zugleich kritisierte Rennert, dass Leonhard (und ähnliche Schulen) Teilaspekte betone und damit zur Dogmatisierung beitrage. Er beanstandete die vielen Variationsmöglichkeiten und Übergänge in Leonhards Typologie, die Diagnose-Stabilität und Interrater-Reliabilität erschwerten und die Forschung behindern könnten. Zentral war für Rennert die Anerkennung von Zwischenformen (z. B. zykloide bzw. schizoaffektive Psychosen) als Teile eines Kontinuums. Sein Universalgenese-Modell betonte eine multidimensionale Pathogenese, in der verschiedene Faktoren zu wechselnden Syndromkonstellationen führen.
Forschungs- und Lehrarbeit
Rennert leitete an der Universität Halle insbesondere Forschungsprogramme zur Pathogenese der Psychosen, zur Neurochemie und Neurophysiologie sowie zur Differentialdiagnostik. Sein Lehrbuch „Neurologie und Psychiatrie“, das er zusammen mit Lemke verfasste, wurde in der DDR zum Standardwerk. Auch die internationale Fachwelt wurde auf ihn aufmerksam: Er vertrat eine undogmatische, empirisch fundierte Sicht, setzte auf die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen und ging mit modernen pharmakologischen Entwicklungen, wie der Anwendung von Neuroleptika, experimentell vor. Er war Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften, darunter der Leopoldina, und vertraut mit internationalen Kontakten.
Einfluss auf die Ausbildung und Jugendpsychiatrie
Rennert engagierte sich stark in der Ausbildung des Nachwuchses. Er betreute viele Doktoranden, leitete Lehrveranstaltungen und etablierte die Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständige, wissenschaftlich fundierte Disziplin. Er war personell maßgeblich an der Weiterentwicklung der kinderpsychiatrischen Versorgung in der DDR beteiligt: Die Einrichtung eigener Abteilungen, die Ausbildung von Fachkräften und die Integration neuester Therapieverfahren – von Psychotherapie bis medikamentöser Behandlung – wurden unter seiner Leitung systematisch vorangebracht.
Klinische Versorgung und Forschung
In Halle entwickelte Rennert klinisch wie wissenschaftlich eine breite Basis für die Behandlung experimenteller Verfahren, etwa die neurochemische Behandlung oder die Umfeldforschung bei Jugendlichen. Historisch bedeutend war auch die Etablierung der Sektion Klinische Neurochemie und Liquorforschung, die wichtige Erkenntnisse zur Diagnostik und Therapie neurologisch-psychiatrischer Erkrankungen erwirtschaftete. Darüber hinaus konnte er eine regionale Versorgungslücke schließen, indem er jugendpsychiatrische Stationen, Tageskliniken und ambulante Beratungsstellen aufbaute.
Bedeutung
Helmut Rennert war maßgeblich an der wissenschaftlichen und klinischen Entwicklung der DDR-Psychiatrie beteiligt. Seine Theoriebildung, insbesondere die „Universalgenese“ der Psychosen, prägte weit über die DDR hinaus das Verständnis psychischer Störungen. Er war eine zentrale Figur in der akademischen Lehre, in Fachgesellschaften und in der internationalen Psychiatrie – und verband dort wissenschaftliche Innovation mit sozialistischer Ideologie.
Durch seine umfangreiche Publikationstätigkeit, seine Lehrbücher und seine Forschungsprojekte setzte er Maßstäbe für die Ausbildung zukünftiger Fachärzte und Wissenschaftler. Seine Arbeit prägte auch die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die in der DDR zunehmend eigenständig, wissenschaftlich fundiert und klinisch ausgerichtet wurde.
Auswahl Publikationen
Rennert, Helmut: Zur Entstehung und Einordnung psychischer Krankheiten aus der Sicht einer „Universalgenese der Psychosen“, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 29 (1), 1977, S. 9–13.
Rennert, Helmut: Die Scham und ihre psychiatrische Bedeutung: Eine Abhandlung über das Schamgefühl und seine Merkmale vom Standpunkte der medizinischen Psychologie, Physiologie und Psychiatrie, gleichzeitig ein Beitrag zur naturwissenschaftlichen Lehre von den Affekten, Jena 1952.
Rennert, Helmut: Das Fortlaufen der Kinder und die Poriomanie: Eine diagnostische Betrachtung, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 6 (5), 1954, S. 139–151.
Lemke, Rudolf; Rennert, Helmut: Psychiatrische Themen in Malerei und Graphik, Jena 1958.
Lemke, Rudolf; Rennert, Helmut: Neurologie und Psychiatrie. Grundlinien für das Studium und die Praxis, Leipzig 1960.
Rennert, Helmut: Die Merkmale schizophrener Bildnerei, Jena 1962 (Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Psychiatrie und Neurologie 23).
Lemke, Rudolf; Rennert, Helmut: Neurologie und Psychiatrie mit Anhang: Kinderpsychiatrie. Leitfaden für Studium und Praxis, Leipzig 1965.
Rennert, Helmut: Therapeutisches Wirken im Blickwinkel der Universalgenese der Psychosen (,,Einheitspsychose“), in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 17 (7), 1965, S. 245–248.
Rennert, Helmut; Kühne, Gert-Eberhard: Erfahrungen mit der Tages- und Nachtklinik in der Psychiatrie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 20 (7), 1968, S. 266–269.
Rennert, Helmut: Psychopharmakotherapie unter dem Aspekt einer Universalgenese der Psychosen, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 65, 1971, S. 408–411.
Rennert, Helmut: Störungen der tiefenräumlichen Wahrnehmung und Wiedergabe: ein neuropsychiatrischer Beitrag zur perspektivischen Erfassung, Halle 1977 (Nova acta Leopoldina 47).
Rennert, Helmut: Zur Entstehung und Einordnung psychischer Krankheiten aus der Sicht einer „Universalgenese der Psychosen“, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 29 (1), 1977, S. 9–13.
Rennert, Helmut: Einige Hinweise zu epileptischen Psychosen ihrer Differentialdiagnostik und Therapie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 38 (2), 1986, S. 61–64.
Weiterführende Literatur
Kühne, Gert-Eberhard: Helmut Rennert – Universalgenese der Psychosen und Merkmale schizophrener Bildnerei. Ein Rückblick anlässlich seines 90. Geburtstages, in: Schriftenreihe der DGGN, Bd. 16, Würzburg 2010, S. 59–78.
Kumbier, Ekkehardt; Herpertz, Sabine C.: Helmut Rennert’s universal genesis of endogenous psychoses: the historical concept and its significance for today’s discussion on unitary psychosis, in: Psychopathology 43 (6), 2010, S. 335–344.
Kumbier, Ekkehardt: Helmut Rennert: ein Antipode Karl Leonhards? Zur Entstehungsgeschichte der Universalgenese der endogenen Psychosen, in: Impulse für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in der Lebensspanne: Festschrift zum 75. Geburtstag von Herrn Prof. Dr. Klaus Ernst, Rostock, 2011, S. 1–18.
Kumbier, Ekkehardt: Helmut Rennert – Protagonist der Psychiatrie in der DDR?, in: Acta Historica Leopoldina (65), 2016, S. 21–36.
Kumbier, Ekkehardt: Alte Idee – neues Gewand? Helmut Rennert und die Universalgenese der endogenen Psychosen, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 293–312.