
Akteur

Prof. Dr. med. Franz Günther von Stockert (1899–1967)
Psychiater und politisch unbequemer Hochschullehrer
Franz Günther Ritter von Stockert war ein international bekannter Psychiater mit starker wissenschaftlicher Prägung und familiären Beziehungen zu bedeutenden Neurologen und Psychiatern. 1954 nahm er den Ruf auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Rostock an und leitete die Universitäts‑Nervenklinik Rostock‑Gehlsheim. Der sozialistischen Gesellschaftsordnung stand er skeptisch gegenüber. Seine Karriere in der DDR war dementsprechend nur von kurzer Dauer.
Das erste Ordinariat, das sehnsüchtig erhoffte Ziel der akademischen Laufbahn war Rostock
Nachlass F. G. von Stockert (im Besitz der Familie von Stockert)Porträt
1899 | 9. Januar: Franz Günther Ritter von Stockert wird in Wien geboren. Sein Großvater ist der berühmte Hirnforscher Theodor Meynert. |
1918 – 1924 | Studium der Medizin an der Universität Wien, 1924 Staatsexamen und Promotion |
1924 – 1926 | Hilfsarzt an die Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik unter Leitung von Julius Wagner von Jauregg |
1926 – 1935 | Wechsel an die Universitäts-Nervenklinik Halle (Saale), 1928 Habilitation, 1935 eine außerplanmäßige Professur |
1936 – 1940 | Neurochirurgische Ausbildung bei Wilhelm Tönnis an der Universität Würzburg, später bei Karl Kleist an der Frankfurter Universität, intensive Beschäftigung mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie |
1939 – 1945 | Chefarzt eines Nervenlazaretts, ab 1940 Beratender Psychiater des Heeres, Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund, NS-Dozentenbund, der NSDAP |
1945 – 1954 | Rückkehr an die Universität Frankfurt |
1954 | Ruf auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an die Universität Rostock und wurde Direktor der Universitäts-Nervenklinik Rostock-Gehlsheim |
1954 – 1958 | Trotz schwieriger Voraussetzungen war von Stockert auch während seiner Zeit in der DDR wissenschaftlich aktiv. In diese Zeit fielen die Neubearbeitung seines Lehrbuchs „Psychopathologiedes Kindesalters“, das 1957 in dritter Auflage erschien, sowie 1956 eine Monografie über die Sexualität des Kindes. |
1957 | Vizepräsidenten der Union Europäischer Pädopsychiater |
1958 | Verhaftung und Inhaftierung durch die Staatssicherheit, Prozess, Rückkehr an die Universität Frankfurt/ M., wo von Stockert als Dozent tätig ist |
1964 | Leiter der kinderpsychiatrischen Abteilung und Extraordinariat für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Frankfurt |
1967 | 25. Februar: Tod von Franz-Günther von Stockert in Frankfurt/ Main |
Der schwierige Start in die DDR-Wissenschaft
Franz Günther von Stockerts Entscheidung, in die DDR zu gehen, war laut persönlichen Aufzeichnungen eine schwierige. Sein Vorgänger Hans Heygster hatte aus politischen Gründen das Amt niedergelegt, und viele Kollegen mit Ost-Erfahrung hatten ihm abgeraten. Nach den Ereignissen des 17. Juni 1953 war die Macht der kommunistischen Behörden deutlich geworden. Trotz wissenschaftspolitischer Umwälzungen unter der Zweiten Hochschulreform gab es nach Stalins Tod 1953 Zeichen der Entspannung. In einem Rückblick schrieb von Stockert, dass die Situation zunächst optimistischer eingeschätzt wurde, vor allem im Hinblick auf die Wiedervereinigung. Zu dieser Zeit erschien es, als seien die Behörden kompromissbereiter.
Für von Stockert, Enkel und Schwiegersohn bedeutender Persönlichkeiten sowie individuell geprägter Katholik und Humanist, war die Übernahme des ersten Ordinariats in Rostock ein bedeutender Karriereschritt in seiner akademischen Laufbahn. Er verkörperte jedoch nicht das Ideal der propagierten „neuen sozialistischen Intelligenz“. Der Ruf auf den Lehrstuhl in Rostock stellte somit einen Wissenschaftler aus Westdeutschland an eine bedeutende Stelle in der DDR.
Grenzen wissenschaftlicher Autonomie: Die Verfolgung von Franz Günther von Stockert
Nach einer zunächst ruhigen Phase in Rostock kam es 1957 zu einem Bruch, als sein Einzelvertrag fristlos gekündigt wurde, weil er sich weigerte, die DDR-Staatsbürgerschaft anzunehmen, obwohl diese Klausel formell nicht im Vertrag vorgesehen war. Die Entscheidung wurde durch zunehmenden politischen Druck und Interna innerhalb der DDR-Strukturen beeinflusst, insbesondere im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zur Dritten Hochschulkonferenz 1958 und der Abwicklung unliebsamer Wissenschaftler.
Von Stockert äußerte mehrfach Kritik am politischen System und geriet dadurch ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit, das eine gezielte Aktion gegen ihn plante. Am 31. März 1958 wurde er verhaftet und vor Gericht gestellt. Ihm wurden staatsgefährdende Hetze, Beleidigungen und wahrheitswidrige Behauptungen, etwa über die Atomwaffenbestrebungen der DDR, vorgeworfen. Das Gericht verurteilte ihn schließlich im Mai 1958 zu einem Jahr Haft auf Bewährung, wobei internationaler Druck und Proteste von Wissenschaftlern aus mehreren Ländern den Prozess milderten.


Der internationale Austausch sowie die Unterstützung namhafter Fachleute führten dazu, dass die DDR sich schließlich gezwungen sah, ihn im Juli 1958 nach Westdeutschland ausreisen zu lassen. Die Verhaftung und Verurteilung von Stockert erschütterten nicht nur die Wissenschaftsgemeinschaft, sondern zeigten auch die restriktive, politisch kontrollierte Atmosphäre deutscher Hochschulen im Ostblock. Der Fall führte zudem dazu, dass in Rostock die Abteilung in drei eigenständige Fachbereiche aufgeteilt wurde, um die Macht des jeweiligen Direktors zu begrenzen. Diese Ereignisse sind ein anschauliches Beispiel für die politischen Eingriffe in die Wissenschaft und die Verletzung der akademischen Autonomie in der DDR.
Machtkämpfe um Lehrstühle: Die Teilung
Der Rostocker Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie wurde gezielt aufgeteilt, um den Einfluss von von Stockert zu begrenzen. Ziel war, den Machtbereich des Wissenschaftlers einzuschränken, was durch eine zentrale Entscheidung in Berlin umgesetzt wurde, gegen den Widerstand der Medizinischen Fakultät. Die Hochschulpolitik wurde von Berlin strikt gesteuert, wobei kritische Stimmen der Fakultäten weitgehend ignoriert wurden. Die Abspaltung des Lehrstuhls in mehrere eigenständige Fachbereiche sollte den Einfluss Stockerts reduzieren. Trotz dieser Maßnahmen blieb die DDR in Bezug auf wissenschaftliche Autonomie und Qualität der Fachrichtungen unter Druck, da der ideologische Einfluss und der Mangel an qualifiziertem Personal die Entwicklung hemmten. Viele hochqualifizierte Mediziner und Wissenschaftler, darunter auch Franz Günther von Stockert, verließen zwischen 1949 und 1961 systematisch die DDR, um im Westen bessere Perspektiven zu finden. Dies spiegelte die anhaltenden Spannungen zwischen politischer Kontrolle und wissenschaftlicher Freiheit innerhalb des DDR-Hochschulsystems wider.
Wissenschaftliches Wirken
Von Stockert gehörte zur Gründergeneration und zu den Wegbereitern der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland und Europa. Besonders interessiert war er an der psychischen Entwicklung von Kindern, insbesondere an der Sprachentwicklung und den damit verbundenen Störungen. Zudem verfasste er das Buch „Psychopathologie des Kindesalters“, das sich zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Lehrbücher auf diesem Gebiet entwickelte. Außerdem veröffentlichte er mehrfach bedeutende Beiträge zur Sexualität des Kindes, beispielsweise in den Jahren 1939, 1955 und 1956. Von Stockert war unter anderem Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie und Präsident der Union europäischer Pädiopsychater (heute European Society for Child and Adolescent Psychiatry).

Das Buch „Psychopathologie des Kindesalters“ war eines der bedeutendsten und umfassendsten Lehrwerke im deutschen Sprachraum auf diesem Gebiet. Es lieferte eine fundamentale Grundlage für die Ausbildung und Praxis in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Auswahl Publikationen
Stockert, Franz-Günther: Die Sexualität des Kindes, Stuttgart 1956.
Stockert von, Franz Günter: Patho-physiologische Gesichtspunkte zur Hirnlokalisation, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 1 (1/2), 1949, S. 19–25.
Stockert von, Franz Günter: Hypochondrie, Ansognosie und Transitivismus, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 6 (4), 1954, S. 103–108.
Stockert von, Franz Günter: Psyche und vegetatives System, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 51 (24), 1957, S. 1099–1102.
Stockert von, Franz Günter Ritter: Zum gegenwärtigen Stand der Aphasieforschung, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 9 (4), 1957, S. 114–123.
Stockert von, Franz Günther: Einführung in die Psychopathologie des Kindesalters, Berlin München 1957 (3. Auflage).
Quellen und Literatur
Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen; Zettl, Uwe K.: Fächerdifferenzierung unter sozialistischen Bedingungen – Die Etablierung der Neurologie an der Universität Rostock, in: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 77 (S 01), 2009, S. S3–S6.
Kumbier, Ekkehardt; Hässler, Frank: 50 Jahre universitäre Kinderneuropsychiatrie in Rostock, in: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 38 (3), 2010, S. 155–160.
Kumbier, Ekkehardt: Die Entstehungsgeschichte der Kinderneuropsychiatrie an den Universitäten der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Universität Rostock, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde. – Würzburg : Königshausen & Neumann 16, 2010, S. 353–371.
Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen: Psychiater im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft: Hochschullehrer an den Universitätsnervenkliniken in der SBZ und DDR bis 1961, in: Psychiatrie in der DDR, 2018, S. 95–108.
Häßler, Frank; Kölch, Michael; Kumbier, Ekkehardt u. a.: Vergleich der stationären Kinderpsychiatrie 1960 und 2015 in Rostock, in: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 69 (8), 2020, S. 737–748.