Akteur

Prof. Dr. med. Dietfried Müller-Hegemann (1910–1989)

Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Leipzig, Psychotherapeut

Marxistisch-leninistischer Musterschüler der Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR

Dietfried Müller-Hegemann gehörte in der jungen DDR zu den wenigen Psychiatern und Hochschullehrern mit kommunistischem Hintergrund. Bereits 1930 war er in den kommunistischen Jugendverband eingetreten. Nach Einsätzen als Stabs- und Truppenarzt im Zweiten Weltkrieg, zuletzt in Potsdam-Babelsberg, wo er offenbar politische Gegner durch Dauerhospitalisierung vor Fronteinsätzen bewahrte, geriet Müller-Hegemann 1945 in sowjetische Gefangenschaft. Bis 1948 leitete er eine Antifa-Schule in der UdSSR. Zurück in Berlin habilitierte er sich 1951 an der Charité mit einer Arbeit zur Psychotherapie schizophrener Prozesse und profilierte sich als Befürworter des Pawlowismus.

Bereits 1950 war seine Berufung nach Leipzig geplant. Nach dem Ausscheiden des kommissarischen Klinikleiters Pfeifer übernahm er 1952 das Direktorat der Psychiatrischen Klinik und wurde 1957 ordentlicher Professor. Die Berufung war politisch flankiert – Müller-Hegemann galt als ideologisch zuverlässig, SED-Mitglied und Propagator der sowjetischen Wissenschaftslehre.

Sein Engagement für die Schlaftherapie, die auf Pawlows Lehre basierte, galt als Musterbeispiel ideologischer Umsetzung in der Praxis. Parteitagungen, insbesondere die Leipziger Pawlow-Tagung 1953, festigten sein Profil. Neben der Klinikleitung übernahm er zeitweise die Hauptabteilung Wissenschaft im DDR-Gesundheitsministerium. Fachlich und politisch fest verankert, prägte Müller-Hegemann die DDR-Psychiatrie in den 1950er-Jahren entscheidend.

In seinen „Grundzügen einer neuzeitlichen Psychotherapie“ will Müller-Hegemann nicht Defizite, sondern „sozial wertvolle Eigenschaften“ von Patienten fördern. Er wendet sich gegen Freud und Kraepelin, fordert eine streng naturwissenschaftliche Psychiatrie auf Basis „objektiver Gesetzlichkeit“ und „kausalen Denkens“. Pawlow steht für ihn als Symbol experimentell gesicherter, ideologiefreier Theorie und Praxis.

Hier zeichnet sich der diametrale Gegensatz der Pawlowschen Lehre zu den psychosomatischen und anderen tiefenpsychologischen Schulen ab, in denen Instinkt und Trieb als die maßgebenden Kräfte im Menschen erscheinen und der Mensch nicht als gesellschaftliches Wesen, sondern als ein von den gesellschaftlichen Entwicklungen isoliertes Triebwesen aufgefaßt wird.

Kritik an der Tiefenpsychologie westlicher Prägung durch Dietfried Müller-Hegemann, in: Müller-Hegemann, Dietfried: Pawlows Lehre vom zweiten Signalsystem, ihre Grundlagen und ihre Bedeutung für Pawlows Gesamtwerk, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 4 (6), 1952, S. 166.

Porträt

19105. Mai: Geburt in Laibach/Österreich-Ungarn.
1930–1936Medizin- und Philosophiestudium in München, Wien, Königsberg und Berlin
1931Mitglied der KPD
1936–1943Psychoanalyse-Ausbildung am DGP-Institut Berlin bei Harald Schultz-Hencke
1937Assistenz an der Nervenklinik der Charité Berlin unter Karl Bonhoeffer, im gleichen Jahr Promotion zum Thema „Ungewöhnliches Symptombild bei einer Commotionspsychose“
1940–1943Tätigkeit als Truppenarzt im Zweiten Weltkrieg, ab 1943 als Lazarettarzt
1945–1948Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion, nach Rückkehr 1948 Leiter eine Antifa-Schule in Berlin
1948Mitglied der SED, ab 1952 Mitglied der SED-Kreisleitung Leipzig
ab 1950Tätigkeit als Oberarzt an der Berliner Charité, Mitherausgeber der Zeitschrift „Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie“
1951Habilitation mit der Arbeit „Die Psychotherapie bei schizophrenen Prozessen: Erfahrungen und Probleme“; Entwicklung der „Rationalen Psychotherapie“ und Schlaftherapie nach der Lehre Pawlows, Chefarzt an der Landesanstalt Leipzig-Dösen
1952–1964Kommissarische Leitung der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig, Auszeichnung „Verdienter Arzt des Volkes“
1953Gründung der Leipziger Psychotherapieabteilung, Organisation der Pawlow-Tagung in Leipzig
1954–1956Leitung der Hauptabteilung Wissenschaft am Ministerium für Gesundheitswesen
1957–1964Direktor und Inhaber des Lehrstuhls Psychiatrie und Neurologie an der Universität Leipzig
1957Veröffentlichung des ersten Psychotherapielehrbuchs der DDR mit dem Titel „Psychotherapie: ein Leitfaden für Ärzte und Studierende“
ab 1960Gründungs- und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie (GÄP)
1964–1971Direktor des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses Berlin
1971–1972Verlassen der DDR und kurze Tätigkeit als „Visiting Professor“ an der University of Pennsylvania
1973–1975Aufbau und Leitung einer Psychotherapieabteilung am Knappschaftskrankenhaus Essen-Steele
1975–1988Private Niederlassung als Nervenarzt und Psychotherapeut
198928. Juli: Tod von Dietfried Müller-Hegemann in Essen

Frühe Kritik an Müller-Hegemanns Faschismus-Analyse

Ab März 1958 mehren sich in den Archivalien Hinweise, dass Müller-Hegemann politisch an Rückhalt verlor. Bereits 1955 hatte er im Rudolstädter Greifenverlag das knapp 120-seitige Buch „Zur Psychologie des deutschen Faschisten“ veröffentlicht. Darin analysierte er den „Typ Deutschen Faschisten“ als „menschliche Entartung gröbster Art“, geprägt von Angst, Aggression und Gehemmtheit im Alltag, aber Enthemmung im „Einsatz“. Die Gewaltherrschaft sei, so seine These, vor allem durch angstbesetzte Persönlichkeiten ermöglicht worden, die ihre Aggression auf Feindbilder wie „Untermenschen“ oder „Minderwertige“ projizierten. Diese Sichtweise widersprach der marxistisch-leninistischen Doktrin, die den Faschismus als gesetzmäßige Folge des Imperialismus deutete. Staatssekretär Kurt Winter kritisierte das Werk scharf, bezeichnete es als „revisionistisch“ und „mystisch“ und verhinderte eine Neuauflage.

Politisch-ideologische Streitigkeiten und Veröffentlichung des ersten DDR-Psychotherapielehrbuchs

Winters Reaktion erklärt sich auch aus einem institutionellen Konflikt: Er wollte nach sowjetischem Vorbild die neurologisch-psychiatrischen Lehrstühle trennen, um politisch unzuverlässige Hochschullehrer zu marginalisieren. Müller-Hegemann stellte sich offen gegen diese Pläne, die unter zentralistischen Vorgaben auch in Rostock umgesetzt werden sollten. Im Februar 1958 schrieb er an das Staatssekretariat und warf Winter Wortbruch vor. Winter reagierte persönlich beleidigt und griff in einer Aktennotiz auch auf das drei Jahre alte Buch zurück, um dessen „politisches Prestige“ zu kritisieren. Er warf ihm vor, sich mit oppositionellen Kollegen wie Karl Leonhard und Franz Günter von Stockert zu solidarisieren und machte ihn für die Republikflucht zweier Mitarbeiter verantwortlich.

In die Zeit der vielfachen politisch-ideologischen Auseinandersetzungen mit zentralen Entscheidungsträgern in Berlin fällt die Publikation des ersten Psychotherapielehrbuchs der DDR. Müller-Hegemann veröffentlichte es 1957 mit dem Titel „Neurologie und Psychiatrie. Lehrbuch für Studierende und Ärzte“.

Müller-Hegemanns Leitfaden bot Ärzten und Medizinstudierenden einen praxisnahen Einstieg in die moderne Psychotherapie. Er verband neurophysiologische Erkenntnisse mit Methoden nach Pawlow, dem autogenen Training nach Schultz-Hencke und der kritischen Auseinandersetzung mit gängigen Therapierichtungen. Psychotherapie wird hier als unverzichtbare Ergänzung jeder Behandlung verstanden – weil sie den ganzen Menschen in den Blick nimmt.

Der Tod von Rudolf Neumann als politischer Hebel

Im März 1962 starb Dr. Rudolf Neumann, Cheflektor des Verlags Volk und Gesundheit, in der Leipziger Klinik. Er hatte im Rahmen der Pawlowschen Schlaftherapie ein Kombinationspräparat aus Kaliumbromat und Chloralhydrat erhalten. Bereits 1960 war ein weiterer Patient unter ähnlichen Umständen verstorben. Der Fall bot parteiinternen Gegnern Anlass, Müller-Hegemann zu belasten. Eine 1963 eingesetzte Kommission des Gesundheitsministeriums stellte beide Todesfälle in einen politischen Kontext. Spätere Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft relativierten jedoch diese Vorwürfe und folgten medizinischen Befunden.

Müller-Hegemann hatte keine starke Schutzmacht im Parteiapparat. Dennoch ist eine gewisse informelle Unterstützung möglich, da er regelmäßig hochrangige Parteifunktionäre im Regierungskrankenhaus Berlin-Buch untersuchte. Letztlich übten Walter Ulbricht und Erich Honecker Einfluss auf das Ministerium für Gesundheitswesen und das Staatssekretariat aus, sodass diese ihre Haltung zu Müller-Hegemann teilweise revidierten. Gesundheitsminister Max Sefrin musste im Herbst 1963 sogar öffentlich das eigene Ministerium kritisieren.

Isolation, Resignation und Rücktritt

Zwischen Februar und Oktober 1963 erlebte Müller-Hegemann eine Phase völliger Unsicherheit. Ohne Rückhalt in den vorgesetzten Stellen oder an seiner Klinik fühlte er sich als Spielball politischer Machtkämpfe. Im März 1964 berichtete Sefrin dem ZK-Sekretär Hager, dass sich die Spannungen erneut zu einem offenen Machtkampf zwischen Klinikdirektor und Parteiorganisation zuspitzten. Müller-Hegemann war isoliert, auch von der jüngeren Ärzteschaft, deren Reformideen er skeptisch gegenüberstand. Am 31. August 1964 trat er schließlich von allen akademischen Ämtern zurück – das Ende einer langen Auseinandersetzung, in der persönliche, fachliche und politische Linien untrennbar ineinandergriffen.

1965 wurde Müller-Hegemann Ärztlicher Direktor des psychiatrischen Wilhelm-Griesinger-Fachkrankenhauses in Ostberlin-Wuhlgarten. 1971 kehrte er von einer Reise in die Bundesrepublik nicht zurück. Zwischen 1972 und 1975 baute er die Psychotherapie-Abteilung des Knappschafts-Krankenhauses Essen auf; zugleich ist er deren Leiter.

Macht, Medizin und Ideologie – Der Fall Müller-Hegemann

Die Psychiatrie in der DDR war nicht nur ein medizinisches Fachgebiet, sondern auch ein politisches Spannungsfeld. Fachliche Entscheidungen, Forschungsschwerpunkte und selbst personelle Besetzungen standen unter dem Einfluss der SED-Ideologie. Wer öffentlich Positionen vertrat, die nicht der marxistisch-leninistischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung entsprachen, riskierte berufliche Isolation, persönliche Anfeindungen und den Verlust seiner Stellung. Besonders gefährlich wurde es, wenn fachliche Überzeugungen den offiziellen politischen Linien widersprachen – ein Schicksal, das den Leipziger Psychiater und Neurologen Müller-Hegemann besonders hart traf.

Auswahl Publikationen

Müller-Hegemann, Dietfried: Psychotherapie in der modernen Gesellschaft, in: Aufbau 5 (9), 1949, S. 817–830.

Müller-Hegemann, D. (1950). Antwort an Herrn Dr. Schultz-Hencke auf seinen offenen Brief. in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie, Bd. 2(3), S. 89–93.

Müller-Hegemann, Dietfried: Psychotherapie. Ein Leitfaden für Ärzte und Studierende Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1957.

Müller-Hegemann, Dietfried: Zwei Wege in die moderne Psychotherapie, in: Das Deutsche Gesundheitswesen 6 (23), 1951, S. 641–646.

Müller-Hegemann, Dietfried: Die Psychotherapie bei schizophrenen Prozessen. Erfahrungen und Probleme, Leipzig 1952.

Müller-Hegemann, Dietfried: Pawlows Lehre vom zweiten Signalsystem, ihre Grundlagen und ihre Bedeutung für Pawlows Gesamtwerk, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 4 (6), 1952, S. 163–166.

Müller-Hegemann, Dietfried: Neue Wege der psychiatrisch-neurologischen Forschung auf Grund der Arbeiten der Pawlowschen Schule, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 7 (7), 1955, S. 193–203.

Müller-Hegemann, Dietfried: Zur Psychologie des deutschen Faschisten, Rudolstadt 1955.

Müller-Hegemann, Dietfried: Das ärztliche Gespräch in der Psychotherapie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 8 (2/3), 1956, S. 44–50.

Müller-Hegemann, Dietfried (Hg.): Neurosenprobleme in Klinik und Experiment; ausgewählte Vorträge aus dem Fortbildungslehrgang über Neurosen vom 25. bis 28. Juni 1958., Berlin 1959.

Müller-Hegemann, Dietfried: Zur klinischen Systematik der Depression, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 16 (3), 1964, S. 90–100.

Müller-Hegemann, Dietfried: Zur Publikation von K. Weise Verstehende, physiologische oder soziale Psychopathologie, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 61, 1967, S. 84–85.

Müller-Hegemann, D. (1967). Soziogene Neurosen und Psychosen. in: Social psychiatry, Bd. 2, S. 81–85.

Müller-Hegemann, Dietfried: Über die Neuroseauffassung in der Lehre von der höheren Nerventätigkeit, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 20 (5), 1968, S. 168–170.

Müller-Hegemann, Dietfried (Hg.): Entwicklungsneurologie des Kindes, Bd. 13/14, Leipzig 1970 (Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Beiheft).

Müller-Hegemann, D. (1973). Die Berliner Mauer-Krankheit. Nicolai, Herford.

Müller-Hegemann, D. (1981). Autogene Psychotherapie. Weiterentwicklungen des Autogenen Trainings. Rowohlt, Reinbek.

Quellen und Literatur

BArch, MfS, HA XX, Nr. 20817.

Müller-Hegemann, Dietfried: Pawlows Lehre vom zweiten Signalsystem, ihre Grundlagen und ihre Bedeutung für Pawlows Gesamtwerk, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 4 (6), 1952, S. 163–166.

Steinberg, Holger; Weber, Matthias M.: Vermischung von Politik und Wissenschaft in der DDR. Die Untersuchung der Todesfälle an der Leipziger Neurologisch-Psychiatrischen Universitätsklinik unter Müller-Hegemann 1963, in: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie 79 (10), 2011, S. 561–569.

Schmidt, R.; Steinberg, Holger: Müller-Hegemanns Systematik der Depressionen von 1964 als Vorschlag zur Konzeptualisierung der affektiven Störungen. Eine kritische Analyse, in: Fortschritte Der Neurologie-Psychiatrie 84 (6), 2016, S. 344–353. Online: <https://doi.org/10.1055/s-0042-107469>.

Steinberg, H.: Die Karriere des Psychiaters Dietfried Müller-Hegemann (1910–1989). Beispiel eines politisch gewollten Auf- und Abstiegs in der DDR, in: Der Nervenarzt 89 (1), 2018, S. 78–87.

Steinberg, Holger: Die Karriere des Psychiaters Dietfried Müller-Hegemann als Beispiel eines politisch gewollten Auf- und Abstiegs in der DDR, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 119–136.

Steinberg, Holger: Die lasche Beobachtung eines Staatsfeindes: Der DDR- und bundesdeutsche Psychiater und Psychotherapeut Dietfried Müller-Hegemann in den Akten der Stasi, in: Fortschritte Der Neurologie-Psychiatrie 88 (8), 08.2020, S. 514–527.

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