Akteur

Dr. med. Gerda Jun (1935–2018)

Psychiaterin, Kinder- und Jugenspsychiaterin, Psychotherapeutin

Gemeinsam mit den Familien: Aufbau rehabilitativer Hilfen

Gerda Jun engagierte sich für die Integration geistig beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher in die Gesellschaft der DDR. Gemeinsam mit Irene Blumenthal setzte sie sich mit betroffenen Familien am Städtischen Krankenhaus Herzberge (ab 1971 Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Berlin-Lichtenberg) dafür ein, Diskriminierung, Ignoranz und Benachteiligung zu überwinden.

Sie baute das Kreisdispensaire für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie Berlin-Lichtenberg auf, das 1971 eigene Räume und ein erweitertes multiprofessionelles Team erhielt. Dieses war verantwortlich für Prophylaxe, Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Nachsorge psychisch gestörter Kinder und Jugendlicher. Ein Schwerpunkt lag auch auf Familien, die ihre Kinder nicht regelmäßig vorstellten – hier übernahmen die Fürsorgerinnen eine besonders wichtige Rolle. Im Rahmen der ambulanten kinderneuropsychiatrischen Arbeit übernahm das Dispensaire nicht nur Spezialsprechstunden, sondern auch die Verantwortung für den Aufbau rehabilitativer Maßnahmen im Stadtbezirk. In Zusammenarbeit mit Eltern, Behörden und Volksvertretung entstanden fünf Einrichtungen für rund 230 Kinder und Jugendliche, die regelmäßig betreut wurden. Fehlten noch geeignete Wohnheime für Pflegefälle und heranwachsende Rehabilitanden, galt weiterhin die familiengebundene Betreuung mit ergänzender Tagesstättenförderung als optimale Lösung. Dauerheimunterbringungen sollten wegen drohender Hospitalismusschäden stets individuell und sorgfältig abgewogen werden.

Gerda Jun hielt ihre langjährige Arbeit in der Sammlung von Berichten von Eltern geistig oder körperlich beeinträchtigter Kinder unter dem Titel „Kinder, die anders sind“ fest. Das Buch dokumentiert die alltäglichen Herausforderungen, Hoffnungen und Bedürfnisse dieser Familien. Es setzte sich für Verständnis, Toleranz und Unterstützung beeinträchtigter Kinder ein und verweist auf die Bedeutung individueller Förderung. Die Berichte dienten sowohl der Gesellschaft als auch Fachkräften als wichtige Informationsquelle.

Ich habe von diesen Kindern für uns alle, die so genannten Normalen, viel lernen können.

Gerda Jun, http://www.gerda-jun.de/index.html (25.05.2025).

Porträt

193510. Januar: in Westpreußen geboren
1945Flucht, Übersiedlung in die SBZ
1953–19581953 Abitur an der Arbeiter-Bauern-Fakultät Rostock, anschließend Studium der Humanmedizin an der Humboldt-Universität Berlin
1958–1962Staatsexamen, anschließend tätig als Ärztin, zunächst Chirurgie, Innere Medizin, Gynäkologie, Kinderheilkunde, Allgemeinmedizin; anschließend Weiterbildung zur Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie.
1960Promotion zum Thema: „Über die gesundheitliche Entwicklung von Mutter und Kind bei berufstätigen und nicht berufstätigen Müttern an der Humboldt-Universität Berlin“
1962–1986ab 1962 Fachärztin, ab 1965 Oberärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Städtischen Krankenhaus Herzberge (ab 1971 Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Berlin-Lichtenberg). Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team engagierter Mitarbeiter gründete und leitete sie ab 1971 eine ambulante Einrichtung für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ -Psychotherapie.
ab 1966Leiterin des Kreisdispensaire für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie Berlin-Lichtenberg
1972Einrichtung einer Gesprächsgruppe für Eltern schwer hirngeschädigter Kinder. Die Gruppendynamik resultierte aus der Heterogenität der Elternpersönlichkeiten und der gemeinsamen Aufgabe, die Integration und Unterstützung der Kinder in Familie und Gesellschaft zu gewährleisten.
1973–1974Auf Initiative des Teams um Jun und Blumenthal entstehen Tagesstätten für nicht schulbildungsfähige Kinder, eine Krippengruppe für 12 geschädigte Kleinkinder sowie ein Neubau als Tagesstättenzentrum für 130 nicht schulbildungsfähige förderungsfähige Kinder.
1970–1984parteilose Abgeordnete im Stadtbezirk Berlin-Lichtenberg
1981Das Buch „Kinder, die anders sind“ erscheint anlässlich des „Internationalen Jahr der Geschädigten“ erstmals; insgesamt erlebt es bis 1994 acht Auflagen und wird in vier Sprachen übersetzt.
Mitgliedschaften:
– Vorsitzende der „Sektion Kinder- und Jugendpsychotherapie“ der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie der DDR
– Vorstandsmitglied der „Sektion Neuropsychiatrie im Kindes- und Jugendalter“ der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR
1986Durch den stärker auf sozialistische Einheitlichkeit ausgerichteten Führungsstil der Berliner Bezirksärztin muss Jun ihre Leitungsfunktion im Kreisdispensaire Berlin-Lichtenberg abgeben. Sie übernimmt eine untergeordnete Position im ambulanten Kinder- und jugendneuropsychiatrischen Dienst Friedrichshain.
20183. Mai: Tod in Berlin-Köpenick

Auswahl Publikationen

Jun, Gerda: Erfahrungen der Dispensaire-Betreuung in der Kinder- und Jugendneuropsychiatrie, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 25 (6), 1979, S. 476–480.

Jun, Gerda: Kinder, die anders sind. Ein Elternreport, Berlin 1981.

Jun, Gerda: Charakter: ein Beitrag zur Diskussion eines alten Themas, Berlin 1989.

Jun, Gerda: Das Leben mit geistig Behinderten, in: Thom, Achim; Wulff, Erich (Hg.): Psychiatrie im Wandel: Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West, Bonn 1990, S. 255–272.

Jun, Gerda: „So sieht ein sozialistischer Mensch nicht aus!“ Menschenbild und Erfahrungen aus der psychosozialen Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der DDR. in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 4 (1991), S. 425–432.

Jun, Gerda: Humanwissenschaften ohne Seele?: Die Neue Synthese: ein komplementäres System als lebendige Ordnung in der seelischen Vielfalt, Lewiston, NY 1994.

Jun, Gerda: Unsere inneren Ressourcen: mit eigenen Stärken und Schwächen richtig umgehen, Göttingen 2009.

Quellen und Literatur

http://www.gerda-jun.de/publikationen.html (25.05.2025).

Jun, Gerda: „So sieht ein sozialistischer Mensch nicht aus!“ Menschenbild und Erfahrungen aus der psychosozialen Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der DDR, in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 4, 1991, S. 425–432.

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