
Zwischen Skandal und Forschung –
Die Psychiatrie in Waldheim
1990 sorgte das Magazin Stern mit Berichten über eine angebliche „Folterklinik“ in Waldheim für Schlagzeilen. Die Schilderungen von Misshandlungen und politischer Internierung lösten einen öffentlichen Aufschrei aus. Untersuchungskommissionen der DDR und später der Länder kamen jedoch zu einem differenzierten Ergebnis: Politisch Andersdenkende wurden nicht systematisch in Waldheim untergebracht, gleichwohl gab es gravierende Missstände. Dazu zählten mangelhafte hygienische Bedingungen, veraltete Therapien, invasive Eingriffe und auch Übergriffe durch Pflegepersonal.
Die öffentliche Diskussion dieser Jahre knüpfte an ein Bild an, das in der Bundesrepublik bereits seit den 1970er-Jahren verbreitet war. Dort stand der politische Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion im Fokus – in Presseberichten, politischen Debatten und nachrichtendienstlichen Einschätzungen. Geschlossene psychiatrische Einrichtungen in einem diktatorischen System galten deshalb grundsätzlich als Orte möglicher staatlicher Willkür. Dieses Deutungsmuster wurde auf die DDR übertragen, und Waldheim erhielt in diesem Zusammenhang eine besondere Symbolkraft.
Befunde zum Klinikalltag
Die archivalische Überlieferung eröffnet heute eine differenziertere Sicht. Krankenakten, forensische Gutachten, Stationsbücher und Patientenkarteien sind in großer Zahl erhalten und geben Aufschluss über Strukturen und Praktiken. Forensische Gutachten folgten dabei einem festen Schema: Tatbeschreibung, ausführliche Anamnese, testpsychologische Verfahren, abschließende Bewertung. Auffällig ist, dass Gutachter nicht nur belasteten, sondern Patienten auch entlasten konnten. Bei Haftpsychosen oder schweren Belastungsfolgen wurde wiederholt Haftunfähigkeit attestiert. Gerade in Verfahren gegen junge Frauen wegen „asozialen Verhaltens“ verwiesen die Gutachten häufig auf soziale Notlagen, schwierige Kindheiten oder Traumatisierungen.
Gleichzeitig dokumentieren die Akten massive strukturelle Defizite: eine chronische Unterbesetzung des Personals, hohe Fluktuation, fehlende ärztliche Kontinuität und ein Mangel an therapeutischen Konzepten. Hygienische Kontrollen bemängelten regelmäßig unzureichende sanitäre Bedingungen, defekte Bäder und eine Versorgungssituation, die vielerorts als unzumutbar galt. Übergriffe und Gewalt durch Pflegekräfte sind belegt; sie führten in einigen Fällen zu Disziplinarmaßnahmen, machten aber zugleich die Verwundbarkeit der Patienten deutlich.
Ambivalenzen der DDR-Psychiatrie
Damit erscheint Waldheim als ein Ort der Ambivalenzen. Einerseits boten die psychiatrischen Gutachten Schutzräume, in denen Patienten vor weiterer Haft bewahrt oder ihre Lebensumstände berücksichtigt wurden. Andererseits prägten Mangel, Überforderung und Machtmissbrauch den Alltag der Anstalt. Diese Spannung verweist auf ein Grundmuster der DDR-Psychiatrie insgesamt: zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Fürsorge und Vernachlässigung, zwischen Fremddeutung von außen und konkreter Praxis vor Ort.
Die Geschichte Waldheims macht sichtbar, wie sehr öffentliche Wahrnehmung und historische Realität auseinanderfallen können. Sie zeigt, dass Skandalisierungen einerseits notwendige Debatten anstoßen, andererseits aber auch Verzerrungen erzeugen. Eine differenzierte Aufarbeitung, gestützt auf die archivalische Überlieferung, ermöglicht es heute, die Psychiatrie in Waldheim jenseits von Schlagzeilen und Vorurteilen in ihren tatsächlichen Strukturen zu verstehen.
Quellen und Literatur
Erices, R. (2021). Politischer Missbrauch in der Psychiatrie der DDR. Psychotherapeut, 66, 282–287.
Erices, R. (2020). Der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion und die Reaktionen der DDR. In E. Kumbier (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR II. Weitere Beiträge zur Geschichte (Bd. 27, S. 73–94). Berlin: be.bra wissenschaft verlag.
Süß, S. (1999). Politischer Psychiatrie-Missbrauch in der DDR? Die Waldheim-Story und ihre Folgen. Horch und Guck, 27(3).
Hagemann, P. (1997). Stellungnahme zum Abschlussbericht der Kommission zur Aufklärung von Missbrauch in der Ost-Berliner Psychiatrie vorgelegt im September 1995. In Interessengemeinschaft Medizin und Gesellschaft e.V. (Hrsg.), Zur gegenwärtigen Gesundheitspolitik. Vorträge und Informationsmaterialien (Teil II, Bd. 8). Berlin: Trafo-Verlag.
Braumann, M. (1997, 15. April). DDR-Psychiatrie nicht in Stasihand. Neues Deutschland.
Bloch, S., & Reddaway, P. (1977). Dissident oder geisteskrank: Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion. München: Piper.