
Verstrickung der Stasi in medizinische Praktiken zur Informationsgewinnung
Die Frage, ob die Stasi gezielt psychotrop wirkende Medikamente einsetzte, ist seit Langem umstritten. Trotz zahlreicher Zeugenaussagen fehlten bislang schriftliche Beweise. Am konkreten Fall eines im Folgenden fiktiv als „Clausmann“ Benannten wird gezeigt, wie medizinische Expertise und geheimpolizeiliche Praktiken beim MfS verflochten waren, insbesondere im Haftkrankenhaus Berlin-Hohenschönhausen.
Am 2.7. erfolgte die als Anlage beigefügte Anfertigung einer Einschätzung der Vernehmungsfähigkeit des obengenannten Beschuldigten. [Es …] wird gebeten, […] eine Aufstellung über die dem Beschuldigten C. verordneten Medikamente anzufertigen. Entsprechend der Forderung des Staatsanwaltes soll in dieser Aufstellung keine Angabe der Wirkungsweise der entsprechenden Medikamente enthalten sein.
Schriftliche Anweisung der BVfS Halle, Abteilung IX an die Abteilung Haftkrankenhaus am 24.07.1986, BArch MfS, AS, Nr. 11249/89, Bl. 9.Das Haftkrankenhaus Hohenschönhausen und die Stasi-Strukturen
Das zentral gelegene Haftkrankenhaus in Berlin Hohenschönhausen diente der medizinischen Versorgung und war für alle Untersuchungshaftanstalten zuständig. Medizinisches Personal wurde teils auch für geheime Operationen eingebunden. Verdachtsmomente hinsichtlich des Einsatzes von Medikamenten zur Einflussnahme auf Häftlinge waren häufig, aber lange Zeit nicht belegbar. Aktuelle Aktenfunde deuten nun auf mögliche medikamentöse Manipulationen hin.
Fallstudie: Der „Hobby-Anwalt“ Clausmann
Im Jahr 1985 begann die Stasi, „Clausmann“ zu überwachen. Er wurde aufgrund seiner systematischen Unterstützung von Ausreisewilligen als Bedrohung wahrgenommen. Trotz fehlender strafrechtlicher Grundlagen setzte die Stasi geheimpolizeiliche Mittel ein, um ihn zu verfolgen. Schließlich wurde er inhaftiert, ohne hinreichende Beweise für eine Anklage. Trotz intensiver Ermittlungen blieb die Beweislage gegen „Clausmann“ schwach. Um dennoch ein Geständnis zu erzwingen, verlagerte die Stasi die Vernehmungen ins Haftkrankenhaus Berlin-Hohenschönhausen. Dort wurden ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit bewusst Beruhigungsmittel verabreicht, die seine kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigten: Vor der entscheidenden Vernehmung erhielt „Clausmann“ sedierende Medikamente, die zu erheblichen geistigen Einschränkungen führten. Die Stasi bemühte sich, diese Praxis vor Gericht zu verbergen, was die Vermutung nahelegt, dass die Medikamente strategisch eingesetzt wurden, um „Clausmann“ zum Geständnis zu bewegen.


Annahme
Der Fall „Clausmann“ liefert erstmals stichhaltige Hinweise auf den gezielten Medikamenteneinsatz durch die Stasi zur Einflussnahme auf Untersuchungshäftlinge. Weitere Forschungen sollten folgen, um die systematische Einbindung medizinischer Einrichtungen in geheimpolizeiliche Praktiken umfassender zu beleuchten.
Die Verstrickung der medizinischen Praxis innerhalb der Stasi-Praktiken ist komplex, und dieser Fall zeigt Anhaltspunkte für eine gezielte Beeinflussung von Häftlingen durch medikamentöse Mittel. Ene intensivere Untersuchung der Akten, um ein vollständigeres Bild der geheimdienstlichen Strategien zu zeichnen, wird zukünftig notwendig sein.
Quellen
Wickert, Tillmann; Haack, Kathleen; Söhner, Felicitas u. a.: Eine Fallstudie – Zum Verhältnis von Medikation und geheimpolizeilicher Praxis im MfS-Haftkrankenhaus Berlin-Hohenschönhausen, in: Der Nervenarzt, 2025, Online:
Weiterführende Literatur
Söhner, Felicitas; Haack, Kathleen; Wickert, lmann u. a.: Zwischen Heilauftrag und Repression: Die Rolle der Medizin in der Haftanstalt Hohenschönhausen – Eine Rekonstruktion aus Erinnerungen, in: Psychiatrische Praxis, 2025, S. im Druck.