
Stellenwert der Psychotherapie
im DDR-Gesundheitssystem
Psychotherapie in der DDR:
Institutionalisierung, Praxis und Selbstverständnis
Im DDR‑Gesundheitssystem war Psychotherapie seit den 1960er Jahren etabliert – eindeutig als Bestandteil der medizinischen Versorgung verankert und theoretisch flächendeckend über die Sozialversicherung abgedeckt.
Integration in medizinische Strukturen und Nachfrage
Eine bibliometrische Analyse der Fachliteratur identifizierte dichte interne Zentren der Psychotherapie in der DDR, etwa in Fachzeitschriften, mit Rückgriff auf westdeutsche Quellen bei gleichzeitiger Eigenvernetzung zwischen ostdeutschen Institutionen und Gruppen. Zugleich zeigten Befragungsdaten, dass lediglich rund 1 % der Teilnehmenden zu DDR-Zeiten psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nahmen – das weist auf eine begrenzte Alltagsnutzung hin.
Soziale Herkunft und professionelle Prägung von Psychotherapeuten in der DDR
Eine qualitative Untersuchung basierend auf biografischen Interviews mit ehemaligen DDR-Psychotherapeuten zeigt, dass viele dieser Fachkräfte aus bürgerlich-akademischen Milieus stammten. Auch eine Herkunft aus Handwerker- oder Unternehmerfamilien war nicht untypisch. Diese soziale Herkunft brachte häufig ein hohes Maß an Bildungskapital mit sich – zugleich aber nicht automatisch auch eine politische Nähe zur DDR-Ideologie.
Mehrere Interviewte berichteten von ambivalenten oder belastenden Erfahrungen im Umgang mit dem Staat: Manche hatten mit Benachteiligungen bei der Studienplatzvergabe zu kämpfen, wenn sie beispielsweise keiner linientreuen Organisation wie der SED angehörten. Das zeigt, dass der Zugang zum Beruf zwar möglich war, aber unter ideologischen Vorzeichen stand, die soziale Herkunft, politische Einstellung und Konformität einbezogen.
Trotz dieser Hürden entwickelten viele der befragten Psychotherapeuten ein starkes professionelles Selbstverständnis. In den Interviews wurde deutlich, dass sie ihre Tätigkeit nicht nur als medizinische Dienstleistung, sondern als reflexive, menschenbezogene Arbeit begriffen. Dabei orientierten sie sich häufig an systemischen Denkweisen, bezogen also das soziale Umfeld, Familienstrukturen oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen in ihre therapeutischen Überlegungen ein – ein bemerkenswerter Befund angesichts der politisch eingeschränkten Diskursräume in der DDR.
Politisch-ideologische Einbettung und fachliche Autonomie
Die Psychotherapie war in der DDR offiziell Bestandteil der sozialistischen Gesundheitsversorgung und galt damit als gesellschaftlich notwendige, staatlich gewollte Dienstleistung. Doch in der konkreten Ausübung bewegten sich Therapeuten in einem Spannungsfeld: Einerseits arbeiteten sie im staatlich reglementierten Medizinbetrieb, andererseits verstanden viele ihre Arbeit als individuellen, oft auch kritischen Beitrag zur menschlichen Entwicklung – unabhängig von ideologischen Vorgaben.
In durchgeführten Interviews wird deutlich, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Psychotherapie in der Bevölkerung eher gering war. Viele Menschen scheuten sich, therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen – sei es aus Angst vor Stigmatisierung oder aus Misstrauen gegenüber staatlich kontrollierten Institutionen. Gleichzeitig behaupteten sich innerhalb der Fachszene Räume professioneller Reflexion: In klinikinternen Weiterbildungen, informellen Diskussionsgruppen oder spezialisierten Zentren entstand eine gewisse inhaltliche Autonomie.
Diese war jedoch nie frei von Risiken: Therapeuten mussten stets darauf achten, wie sie Themen wie individuelle Belastung, zwischenmenschliche Konflikte oder gesellschaftliche Spannungen ansprachen – denn zu viel psychologische Tiefenanalyse konnte im staatssozialistischen Kontext auch als Systemkritik verstanden werden. So blieb die Psychotherapie zwar institutionell verankert, aber politisch potenziell konfliktbehaftet.
Methodisch‑inhaltliche Profilierung
Literaturanalysen und Interviews zeigen, dass psychotherapeutische Methoden wie Gesprächs‑ oder Gruppenpsychotherapie, Hypnose und Katathymes Bilderleben nicht nur verbreitet, sondern auch intern reflektiert und weiterentwickelt wurden. In Netzwerken trat eine klare fachliche Profilbildung hervor, die ebenfalls interdisziplinär die medizinische Praxis beeinflusste.
Psychotherapie in der DDR war mehr als eine staatlich getragene Versorgungsleistung – sie war ein professionelles, selbstreflektiertes Feld mit eigener Dynamik und thematischer Eigenständigkeit, eingebettet in ein ideologisch geprägtes Gesundheitssystem. Sie zeigte sich institutionell gut verankert, methodisch vielfältig und fachlich vernetzt, jedoch praktisch wenig genutzt und sozial durch Hemmschwellen geprägt.
Quellen und Literatur
Bauer, M. (2020). Die Entwicklung der Psychotherapie in der Deutschen Demokratischen Republik : eine Untersuchung historischer Fachpublikationen [Dissertation, Friedrich-Schiller-Universität Jena]. Digitales Bibliotheks- und Bibliographieportal Thüringen. https://www.db-thueringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt_derivate_00061856/Dissertation_MonikaBauer.pdf
Kaufmann, M. T., Nussmann, H., Ayline, H., Brähler, E., Gallistl, A. & Strauß, B. (2024). Aspekte der Inanspruchnahme von Psychotherapie in Deutschland zu Zeiten der DDR und danach. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 74(09/10), S. 383-394. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/html/10.1055/a-2351-4232
Kirschner, H., Storch, M., Arp, A., Kaufmann, M. T., Paripovic, G. & Strauß, B. (2024). Die Bedeutung der Bildungsbiografie für das professionelle Selbstverständnis von DDR-Psychotherapeut: innen. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 74(01), S. 25-34.
Storch, M., Schneider, N., Kirschner, H., Arp, A., Rauschenbach, M., Gallistl, A. & Strauß, B. (2022). Psychotherapeutische Fachliteratur der DDR und BRD: Eine vergleichende Zitationsanalyse. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 72(07), S. 316-324.