
Staatssicherheit und Ärzteschaft in der DDR
In der DDR galt die Ärzteschaft als besonders sensibler Berufsstand. Humanistische Berufsideale und eigenständige ethische Maßstäbe wurden vom MfS häufig als „bürgerliche“ oder „feindlich-negative“ Haltungen bewertet. Diese kritische Grundhaltung wurde durch strukturelle Probleme verstärkt: Personalmangel, Überlastung, lange Wartezeiten und unzureichende Ausstattung führten zu Frustration. Ein besonders sensibles Thema war die Abwanderung qualifizierter Fachkräfte. In MfS-Dokumenten wird vermerkt, dass Anfang der 1970er Jahre bis zu 70 % der „feindlichen Angriffe“ im Gesundheitswesen mit der Abwerbung und Ausschleusung von Ärzten zusammenhingen.
Aufbau eines dichten IM-Netzes
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, setzte das MfS verstärkt auf ein Netz inoffizieller Mitarbeiter (IM) aus den Reihen der Ärzteschaft. In den Anfangsjahren achtete das MfS bei der Anwerbung auf akademische Qualifikation, gesellschaftliches Ansehen und politisch unauffälliges Verhalten. Später verschob sich der Fokus auf nachweisbare Loyalität zur DDR, ergänzt durch die Bereitschaft zur politischen Schulung. Bereits in den 1950er Jahren gab es erste IM im Gesundheitswesen. Ab den 1970er Jahren nahm deren Zahl stark zu. 1974 waren laut MfS-Statistik mehr als 2.000 IM im Gesundheitswesen aktiv, darunter 852 Ärzte – ein im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlicher Anteil. In den 1980er Jahren galt nahezu jede medizinische Einrichtung als durch mindestens einen IM abgedeckt.

Richtlinie 1/79 für die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern und Gesellschaftlichen Mitarbeitern für Sicherheit, Quelle: BArch, MfS, ZAIG, Nr. 26648, Bl. 6.
Im Laufe der Jahre 1983/84 wurde in der pol.op. Arbeit ersichtlich, daß im Bereich Neurologie/Psychiatrie Personen dem westlichen Einfluß unterlagen und es dementsprechend zu neg. Handlungen kam. Speziell müssen diesbezüglich Anträge auf Übersiedlung genannt werden. Dieses ist ein Beweis dafür, daß sich die polit.-ideol. Diversion besonders auf den [!] Gesundheitswesen richtet. Hier muß konkret eingeschätzt werden, daß sowohl Ärzte und mittl. med. Personal diese Merkmale aufweisen. Bezüglich dessen sind gerade Mitarbeiter der Psychiatrie dafür sehr empfänglich, da diese in der BRD besonders gefragt sind.
Gewinnung „zuverlässiger Kräfte zur Einhaltung von Sicherheit und Ordnung im Interesse der Partei und Regierung“ am Bezirksfachkrankenhaus für Psychiatrie Stralsund-West, Quelle: BArch, BStU MfS BV Rst AIM 1196/91, Bd. 1, Bl. 72.Motive für die Mitarbeit
Offiziell erklärte das MfS, die Mehrheit der IM-Ärzte sei „aus politischer Überzeugung“ geworben worden. Einige identifizierten sich tatsächlich mit dem sozialistischen Staat und betrachteten ihre Tätigkeit als Beitrag zum Erhalt des Systems. Häufiger jedoch spielten persönliche Vorteile oder Zwang eine Rolle. Das MfS setzte Drohungen ein – etwa den Entzug der Approbation, berufliche Nachteile oder gar Haftstrafen. Manche Ärzte stimmten zu, um berufliche Perspektiven zu sichern oder ihre Einrichtung zu verbessern. Neben ideologischen und karrierebezogenen Gründen lockten auch materielle Vorteile. Einige IM-Ärzte erhielten einmalige Unterstützungszahlungen, andere regelmäßige Prämien – teils abhängig von der Qualität oder Bedeutung ihrer Berichte.
Inhalte und Folgen der Berichte
Ein Großteil der Berichte bezog sich auf Kollegen. Sie enthielten politische Bewertungen, berufliche Einschätzungen und teils intime Details aus dem Privatleben. Diese Informationen konnten Karrieren beeinflussen, zu Disziplinarmaßnahmen oder gar zu Verhaftungen führen. Besonders gravierend war die Weitergabe von Patientendaten. Manche IM-Ärzte berichteten über Krankheitsbilder, Therapieverläufe und persönliche Einstellungen – häufig in politischem Zusammenhang interpretiert. So wurden psychische Erkrankungen mit Ausreiseabsichten verknüpft oder als Ausdruck „feindlicher Haltungen“ gedeutet.
Die Folgen für Betroffene waren teils drastisch: Überwachung, Druck, Reiseverbote oder strafrechtliche Verfolgung. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wurde nachhaltig beschädigt.
Strategien der Anwerbung
Das MfS präsentierte die IM-Tätigkeit oft als moralisch notwendige Aufgabe: zum Schutz der Patientenversorgung, zur Abwehr „imperialistischer Abwerbung“ oder zur Sicherung des Friedens. Die Ansprache wurde an die jeweilige Fachrichtung angepasst – Psychiater etwa erhielten den Hinweis, psychisch kranke Patienten vor westlichem Einfluss „schützen“ zu müssen. Manche Ärzte wurden während einer Haftstrafe oder in disziplinarischen Verfahren angeworben. Andere sahen in der Zusammenarbeit die Chance, Missstände intern zu adressieren oder kleine Vorteile für ihre Klinik zu erreichen.
Fazit
Die Durchdringung der Ärzteschaft durch das MfS war ein langfristiges, systematisch betriebenes Kontrollinstrument. Ärzte galten als einflussreiche, gut vernetzte und schwer steuerbare Berufsgruppe, deren politische Haltung für die SED unsicher blieb. Die Motive für eine IM-Tätigkeit reichten von echter Überzeugung über persönliche Vorteile bis zu erzwungener Kooperation. Die Folgen waren tiefgreifend: berufliche Karrieren wurden gelenkt oder zerstört, private Beziehungen belastet und das ärztliche Vertrauensverhältnis untergraben. Die Geschichte der IM-Ärzte in der DDR verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen staatlicher Kontrolle, individueller Verantwortung, politischem Druck und moralischen Konflikten – und wirft bis heute Fragen zur Aufarbeitung und zum Verhältnis von Medizin und Politik auf.
Quellen
Weil, Francesca: Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Das Beispiel der Psychiater, in: Kumbier, Ekkehardt; Steinberg, Holger (Hg.): Psychiatrie in der DDR: Beiträge zur Geschichte, Berlin 2018 (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte 24), S. 127–142.
Weiterführende Literatur
Süß, Sonja: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1998 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) 14).
Weil, Francesca: Zielgruppe Ärzteschaft: Ärzte als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Göttingen 2008.
Haack, Kathleen; Grabe, Hans J.; Kumbier, Ekkehardt: Der „Eigen-Sinnige“ – Spielräume psychiatrischen Handelns in der DDR, in: Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen (Hg.): Psychiatrie in der DDR III. Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2023, S. 109–123.
Erices, Rainer: Psychophysiologische Forschung der Staatssicherheit und der Einsatz von sogenannten Lügendetektoren in der DDR, in: Wiener Medizinische Wochenschrift, 2025.