
Sozialpsychiatrie im gesellschaftlichen System der DDR
Die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in der DDR war eng mit dem gesellschaftlichen und politischen Kontext verbunden. Das Leipziger Reformprojekt, das sich auf die Verbesserung und Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung konzentrierte, wurde in das gesellschaftliche System und die Gesundheitspolitik der DDR eingebettet. Trotz Unterstützungen und positiver Rahmenbedingungen standen die Reformbemühungen vor erheblichen Herausforderungen, die sowohl ideologischer, wissenschaftlicher als auch institutioneller Natur waren.
Zumindest im theoretischen Denken hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß eine Psychiatrie ohne psychosozialen Aspekt keine Psychiatrie ist.
Klaus Weise: Sinn und Unsinn des Begriffs Sozialpsychiatrie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 38 (12), 1986, S. 689–693, hier S. 692.Zwischen Unterstützung und Ablehnung
Reformorientierte Strömungen in der Psychiatrie in der DDR wurden durch die SED und staatliche Stellen ansatzweise gefördert. Diese Unterstützung zeigte sich insbesondere bei der Neuorientierung hin zu einer psycho-sozial orientierten Theorie und Praxis. Die sozialmedizinische Ausrichtung wurde an medizinischen Fakultäten und in der Akademie für ärztliche Fortbildung propagiert, was die Bedeutung der Sozialpsychiatrie innerhalb des Gesundheitssystems unterstrich. Das Projekt „Psychonervale Störungen“, ab 1971 unter der Leitung von Klaus Weise, sollte die „Entwicklung von Modellen zur Verbesserung von Struktur und Funktion der territorialen und betrieblichen Versorgung unter besonderer Berücksichtigung der halbklinischen und ambulanten Betreuung“ in der DDR fördern.
Trotz dieser Unterstützung blieb die Rolle der Sozialpsychiatrie innerhalb der medizinischen Gemeinschaft ambivalent. Die vorherrschende naturwissenschaftlich-biologische Ausrichtung der Medizin sowie die biologisch geprägte Psychiatrie standen der sozialpsychiatrischen Perspektive kritisch gegenüber. Die soziale Dimension wurde ideologisch oft tabuisiert, da sie im Widerspruch zu den dogmatischen Vorstellungen des Gesellschaftssystems stand, das auf Pathogenese im gesellschaftlichen System des Sozialismus verzichten wollte. Die psychosozialen Faktoren – etwa soziale Konflikte, Widersprüche und soziale Spannungen – wurden entweder ignoriert oder bewusst ausgeblendet.
Ideologische Einflussnahme und marxistische Philosophie
Die sozialistische Ideologie spielte eine doppelte Rolle: Einerseits wurde sie als Grundlage für die Akzeptanz sozialpsychiatrischer Ansätze genutzt. Das Festhalten an marxistischer Philosophie, insbesondere an der dialektischen Materialismustheorie, wurde bewusst in die Theorie der Psychiatrie integriert. Dabei stützte man sich auf die Ansicht, psychische Erkrankungen seien Reflexionen gesellschaftlicher Wirklichkeiten und Erscheinungsformen menschlichen Wesens. Die Verbindung von biologischer und psychosozialer Dimension sollte die komplexen Wechselbeziehungen im Krankheitsgeschehen beleuchten.
Andererseits führte die Vereinnahmung durch den marxistischen Mainstream auch zu problematischen Verharmlosungen und Vereinfachungen: Die kritische Auseinandersetzung mit dem Marxismus und die Unterscheidung zwischen echtem, reflektiertem marxistischem Denken und stalinistischen Entstellungen wurden kaum thematisiert. Die offizielle DDR-Philosophie betonte häufig eine einseitige Betonung der gesellschaftlichen Strukturen, ohne die Bedeutung der Subjektivität und aktiven Rolle des Individuums ausreichend anzuerkennen. Damit wurden zentrale dialektische Prinzipien, die die Verbindung von Sein und Bewusstsein betonen, marginalisiert.
Die Stellung der Sozialpsychiatrie im medizinischen System der DDR
Die sozialpsychiatrische Bewegung war im Prinzip im Widerspruch zur vorherrschenden Naturwissenschaftlichkeit und der biologischen Sichtweise der Medizin in der DDR. Die medizinische Psychiatrie, die eher auf die individualpsychischen und medizinischen Aspekte fokussierte, fand hingegen Unterstützung, da sie soziale Widersprüche durch die Vermeidung gesellschaftlicher Themen verschärfen oder verschleiern konnte. Probleme wie Suizidalität und Suchterkrankungen wurden in der Öffentlichkeit kaum diskutiert, was die wissenschaftliche Erforschung und gesellschaftliche Aufmerksamkeit erschwerte.
Herausforderungen und Probleme bei der Umsetzung der Reformen
Obwohl die DDR die Prinzipien der ambulanten, gemeindepsychiatrischen Versorgung förderte und sich auf aktuelle internationale Trends bezog, wurde die tatsächliche Umsetzung der Reformen durch eine Vielzahl von Faktoren erschwert. Regionale Unterschiede, lokale Bedingungen sowie das Engagement und die Haltung von Ärzten, Psychiatern und politischen Beamten beeinflussten die Qualität und den Umfang der Umsetzung erheblich. Es traten enorme Unterschiede bei der Ausstattung, Infrastruktur und therapeutischen Standards auf.
Ein bedeutendes Problem war die gesellschaftliche Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, die im gesellschaftlichen Klima der DDR nach wie vor präsent war. Obwohl die Hierarchisierung in der Gesellschaft geringer war und somit die soziale Diskriminierung weniger ausgeprägt wirkte, waren Vorurteile und Ablehnung gegenüber psychisch Kranken weiterhin verbreitet.
Gesellschaftliche Widersprüche und soziale Einflüsse
In den 1960er Jahren bestanden in der DDR vereinfachende Auffassungen, dass psychische Erkrankungen ein Überbleibsel kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen seien, die mit der sozialistischen Ordnung verschwinden würden. Man ging davon aus, dass soziale Widersprüche wie Isolation, Leistungsdruck oder Armut durch den gesellschaftlichen Wandel gelöst werden könnten.
Die gesellschaftlichen Widersprüche, die im Sozialismus weiterhin bestanden, wurden oftmals ignoriert oder bewusst ausgeblendet. Das führte dazu, dass die Ursachen von Suchterkrankungen, Suizidalität oder anderen psychosozialen Problemen nur unzureichend erkannt und behandelt wurden. Es gab zwar Forschungsprojekte und klinische Angebote, doch die gesellschaftliche Tabuisierung erschwerte die umfassende Aufklärung, das öffentliche Verständnis und die Entwicklung effektiver Hilfsangebote.
Behandlung, Versorgung und gesellschaftliche Problematik
In der Versorgung war die Herstellung einer integrierten, sektorenübergreifenden Struktur – ambulant, stationär, rehabilitativ – grundsätzlich gewollt. In Leipzig etwa existierte eine spezialisierte Suchtklinik sowie enge Kooperationen mit Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Alkoholikern. Die Versorgung suizidgefährdeter Personen wurde in die allgemeine medizinische Versorgung integriert, was in der Theorie eine sinnvolle und fortschrittliche Lösung darstellte.
Trotzdem wirkten sich gesellschaftliche Tabus auf die Arbeit aus. Epidemiologische Daten wurden verschleiert, um negative Schlagzeilen zu vermeiden. Die Diskussion in den Medien über Suizid, Sucht und psychische Krankheiten war stark eingeschränkt, was die gesellschaftliche Akzeptanz und die öffentliche Aufklärung behinderte. Die Angst, Tabus zu brechen, führte zu einer Selbstzensur in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und begrenzte den öffentlichen Diskurs über diese Themen.

Die soziale Dimension wurde systematisch ausgeblendet, weil ihre Anerkennung die gesellschaftlichen Widersprüche sichtbar gemacht hätte. Für die politische Führung waren soziale Konflikte bedrohlich, weil sie den offiziellen sozialistischen Bildungs- und Gesundheitsanspruch untergraben hätten. Die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit war eingeschränkt, was sich auch in der begrenzten Untersuchung und Diskussion von wichtigen Themen wie Sucht, Suizidalität, psychosoziale Faktoren oder die gesellschaftlichen Ursachen psychischer Erkrankungen zeigte.
Insofern ist der Beitrag von Klaus Weise zum Thema „Psychiatrie und Gesellschaft“ von 1981, erschienen in der populär-wissenschaftlichen Zeitschrift „Deine Gesundheit“ ein Zeichen der vorsichtigen Öffnung der DDR-Gesellschaft gegenüber sozialkritischen Themen.
Chancen, Grenzen und kritische Reflexionen
Insgesamt zeigte sich, dass die DDR durchaus Raum für Reformen in der Psychiatrie bot, insbesondere in Bezug auf ambulante, gemeindepsychiatrische Ansätze und die Integration psychosozialer Themen. Die Unterstützung durch die Partei und die Regierung erleichterte die Umsetzung innovativer Konzepte auf oberer Ebene. Allerdings waren die tatsächliche Praxis und die institutionellen Bedingungen häufig durch Widerstände, soziale Tabus, infrastrukturelle Mängel und ideologische Vereinnahmung geprägt.
Die gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Erkrankungen war begrenzt, was die Entwicklung effektiver Hilfssysteme erschwerte. Zudem wurden soziale Widersprüche im System teilweise geleugnet oder verharmlost, was die Auseinandersetzung mit Ursachen und Prävention erschwerte. Die politische Unterstützung für Reformen war vorhanden, doch die Umsetzung blieb oft fragmentarisch und von lokalen Faktoren abhängig, insbesondere im niederschwelligen Bereich.
Fazit
Die sozialpsychiatrische Bewegung in der DDR – trotz einer Vielzahl von förderlichen Rahmenbedingungen – wurde durch gesellschaftliche Tabus, ideologische Vereinnahmung und infrastrukturelle Probleme behindert. Die Bemühungen um eine humanisierte, ambulante und gesellschaftsnahe Versorgung hatten in der Praxis oft mit erheblichen Einschränkungen zu kämpfen. Für eine nachhaltige Reform und bessere Versorgung psychisch Kranker wären gesellschaftliche Akzeptanz, kritische Reflexion und unabhängige Betroffenenorganisationen notwendig gewesen.
Quellen
Weise, Klaus: Psychiatriereform in Sachsen 1960 bis 1990, in: Symptom. Leipziger Beiträge zu Psychiatrie und Verrücktheit, 1991.
Weise, Klaus: Sinn und Unsinn des Begriffs Sozialpsychiatrie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 38 (12), 1986, S. 689–693.
Weiterführende Literatur
Kühnel, Peter: Analyse psychiatrischer Versorgungsleistungen in ausgewählten Gesundheitseinrichtungen im Bezirk Leipzig, Diss. med., Karl-Marx-Universität, Leipzig 1982.
Hahn, Hans; Hirsch, Cornelia; Rank, Ruth u. a.: Die psychiatrische Betreuung in Leipzig – 10 Jahre regionalisierte Versorgung einer Großstadt durch 3 Basiskliniken, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 40 (4), 1988, S. 201–210.
Riedel-Heller, Steffi Gerlinde: Gemeindenahe sektorisierte Versorgung psychisch Kranker an der Klinik für Psychiatrie der Leipziger Universität in den Jahren 1988–1990: Analyse der stationären und teilklinischen Inanspruchnahme aus institutioneller und populationsbezogener Sicht, Diss. med., Universität Leipzig 1994.
Gesundheitsamt Leipzig: „Als die Gitter fielen …“ Das sozialpsychiatrische Reformprojekt in Leipzig: Informations-Material des Gesundheitsamtes zur Geschichte der Sozialpsychiatrie in Leipzig, Leipzig 2007. Online:
Böttcher, Andreas: Psychiatriereform in Leipzig – Die Entwicklung der Sozialpsychiatrie in den Jahren 1960 bis 1990, in: Schriftenreihe der DGGN, Bd. 12, Würzburg 2006, S. 441–447.
Tögel, Infrid: Die Psychotherapie-Abteilung an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig, in: Geyer, Michael (Hg.): Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, Göttingen 2011, S. 95–98.