
Reformansätze in der psychiatrischen Versorgung
in der DDR und Bundesrepublik
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden in der DDR und BRD bedeutende Reformansätze entwickelt, um die Versorgung psychisch Kranker zu verbessern und gesellschaftliche Integration zu fördern. Zunächst bestanden nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten große Herausforderungen: Raumbedarf, Personalmangel, Desorganisation der Einrichtungen. Erst Ende der 1950er Jahre wurde die sozialpsychiatrische Diskussion durch Psychopharmaka und internationale Entwicklungen verstärkt. In der DDR dominierten zunächst biologisch orientierte Ansätze, doch die politischen Veränderungen ab den 1960er Jahren ermöglichten eine Öffnung zu sozialpsychiatrischen Ideen und Reformen. In der BRD dominierten seit den 1950er Jahren die anthropologische Psychiatrie. Doch erst die gesellschaftliche Kritik ab den 1960er Jahren führte zu umfänglichen Reformbestrebungen.
Sozialpsychiatrie hatte im psychiatrischen Establishment der DDR immer eine Aussenseiterposition, sie war beschränkt auf Inseln, das traf auch für die Leipziger Psychiatrie zu.
Klaus Weise: Psychiatriereform in Sachsen 1960 bis 1990, in: Symptom. Leipziger Beiträge zu Psychiatrie und Verrücktheit, 1991, o. A..DDR: Entwicklungen und Ansätze
- Rodewischer Thesen (1963): Forderung nach aktiver therapeutischer Haltung, Öffnung der Anstalten, Förderung sozialer Integration, Ausbau ambulant-terlialer Strukturen wie Tages- und Nachtkliniken sowie Polikliniken. Diese wurden auf regionaler Ebene umgesetzt, jedoch blieb die stationäre Versorgung dominant.
- Gemeinschaftsorientierte Reformen: Die Brandenburger Thesen (1970er Jahre) legten den Fokus auf die Verbesserung der stationären Bedingungen und betonten den Dialog mit dem Therapeuten sowie die individuelle Behandlung. Ziel war es, den Patienten gleichberechtigt in den Therapieverlauf einzubeziehen.
- Sozial- und Sektorpsychiatrie in Leipzig: Durch die Sektorisierung auf Leipziger Stadtbezirke wurde die Versorgung vor Ort näher an die Lebenswelt der Patientinnen und Patienten gerückt, was die Zusammenarbeit zwischen Kliniken, ambulanten Diensten und sozialen Einrichtungen verbesserte. Ziel war eine ganzheitliche, dezentralisierte Psychiatrie, die den Menschen im sozialen Kontext sieht und in sein Umfeld integriert.
- Politische Rahmenbedingungen: Trotz Anerkennung durch die DDR-Regierung blieb die tatsächliche Umsetzung begrenzt, und flächendeckende ambulante Strukturen konnten kaum etabliert werden.

In dem 1988 eschienen Artikel werden von dem Autorenkollektiv um Klaus Weise Erfahrungen mit der Einführung einer regionalen psychiatrischen Versorgungsstruktur in Leipzig vorgestellt. Das System bestand aus einem vielseitigen Behandlungskonzept, das stationäre, teilstationäre, ambulante und zusätzliche Einrichtungen integrierte. Es zielte auf eine kontinuierliche Betreuung durch ein eng verbundenes Team aus stationärer und ambulanter Therapie, das mit sozialen und beruflichen Organisationen zusammenarbeitete. Das beschriebene Betreuungsmodell hatte sich als effektive Organisationsform zur Sicherstellung der grundlegenden psychiatrischen Versorgung in der Großstadt Leipzig bewährt.
BRD: Weg zur gesellschaftlichen Reform
- Psychiatrie-Enquete (1975): Eine wichtige Studie der Bundesregierung, die eine grundlegende Neuordnung der Versorgung forderte. Ziel war eine dezentrale, soziale und ganzheitliche Versorgung zunehmend in den Gemeinden, inklusive ambulanten und teilstationären Angeboten.
- Reformziele: Vermeidung von Hospitalisierung, Integration in die Gesellschaft, Zusammenarbeit aller Berufsgruppen und die Einbeziehung Selbsthilfe- sowie Angehörigengruppen.
- Gesellschaftliche Initiativen: Gründung von Organisationen wie der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) und Aktion Psychisch Kranke (APK) zur politischen Unterstützung der Reformen.
Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Psychiatrie in der DDR und der Bundesrepublik
In beiden deutschen Staaten wurde ein Wechsel von Verwahrung zu menschenwürdiger Behandlung angestrebt, mit Fokus auf soziale Integration und ambulante Versorgung. Die sozialpsychiatrischen Reformen verliefen zunächst parallel und im Austausch, doch bei der Umsetzung drifteten sie auseinander. Die BRD konnte durch öffentliche Diskussion und gesellschaftlichen Konsens bedeutende Fortschritte erzielen, während in der DDR politisch bedingte Barrieren den Wandel stark einschränkten. Während in der BRD die Sozialpsychiatrie als eigenständige Wissenschaft etabliert wurde, blieb die Entwicklung in der DDR auf begrenzte Reformen, vor allem in ausgewählten Kliniken, beschränkt.
Quellen
Hahn, Hans; Hirsch, Cornelia; Rank, Ruth u. a.: Die psychiatrische Betreuung in Leipzig – 10 Jahre regionalisierte Versorgung einer Großstadt durch 3 Basiskliniken, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 40 (4), 1988, S. 201–210.
Weise, Klaus: Psychiatriereform in Sachsen 1960 bis 1990, in: Symptom. Leipziger Beiträge zu Psychiatrie und Verrücktheit, 1991.
Armbruster, Jürgen; Dieterich, Anja; Hahn, Daphne u. a. (Hg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Blick zurück nach vorn, Köln 2015.
Weiterführende Literatur
Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen; Steinberg, Holger: 50 Jahre Rodewischer Thesen – Zu den Anfängen sozialpsychiatrischer Reformen in der DDR, in: Psychiatrische Praxis 40 (6), 09.2013, S. 313–320.
Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen: Psychiatriereformen in der DDR – Chancen und Grenzen, in: Westfälische Forschungen: Psychiatriegeschichte als Beitrag zur regionalen Zeitgeschichte 70, 2020, S. 103–120.
Kumbier, Ekkehardt; Armbruster, Jan: Sozialpsychiatrische Reformen in der DDR, in: Nervenheilkunde 34 (5), 2015, S. 362–366.
Balz, Viola: Psychiatriereform in der DDR? Sozialpsychiatrie zwischen Innovation, Mängelverwaltung und gesundheitspolitischen Präventionsprogrammen, in: Eberle, Annette; Kaminsky, Uwe; Behringer, Luise u. a. (Hg.): Menschenrechte und Soziale Arbeit im Schatten des Nationalsozialismus: Der lange Weg der Reformen, 2019, S. 89–107.
Zedlick, Dyrk: Psychiatriereform in der DDR, in: Armbruster, Jürgen; Dieterich, Anja; Hahn, Daphne u. a. (Hg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Blick zurück nach vorn, Köln 2015, S. 103–121.
Söhner, Felicitas; Halling, Thorsten; Becker, Thomas u. a.: Auf dem Weg zur Reform: Ein netzwerkanalytischer Blick auf die Akteure im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete von 1971 / On the way to reform: a network-analytical view on the players in the run-up to the «Psychiatrie-Enquete» of 1971, in: Sudhoffs Archiv 102 (2), 2018, S. 172–210.
Söhner, Felicitas; Fangerau, Heiner; Becker, Thomas: Soziologie als Impuls für die Psychiatrie-Enquete in der Bundesrepublik Deutschland?, in: Psychiatrische Praxis 45 (04), 05.2018, S. 188–196.
Söhner, Felicitas; Becker, Thomas; Fangerau, Heiner: Die Rolle der anthropologischen Psychiatrie in der Vorbereitungszeit der Psychiatrie-Enquete und Psychiatriereform in der Bundesrepublik Deutschland, in: Psychiatrische Praxis 44 (5), 2017, S. 252–257.
Rotzoll, Maike: Psychiatrie in der BRD und der DDR vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Enquete, in: Strauß, Bernhard; Erices, Rainer; Guski-Leinwand, Susanne u. a. (Hg.): Seelenarbeit im Sozialismus. Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR, Gießen 2022, S. 51–60.