
Politischer Missbrauch der Psychiatrie in der DDR –
Einzelfälle: Pfarrer M.
In der DDR gab es kein systematisches psychiatrisches Missbrauchsmodell wie in der Sowjetunion. Dennoch bleibt unklar, in wie vielen Fällen politisch Verfolgte – unabhängig von einer etwaigen Inhaftierung – durch Fachpersonal oder Institutionen negativ beeinflusst wurden. Es ist schwer einzuschätzen, welche Ungerechtigkeiten, Demütigungen oder psychischen Belastungen einzelne Betroffene erlitten haben, zumal sowohl Gefangene als auch psychiatrische Patientinnen und Patienten in der DDR einem erheblichen Machtungleichgewicht ausgesetzt waren. Drastische Einzelfälle lassen sich aus den Unterlagen des BStU recherchieren.
Vorgeschichte
Oskar Brüsewitz, bekennender Christ und Pfarrer von Droßdorf-Rippicha (Kreis Zeitz), kämpfte gegen „Entkirchlichung“ durch einen totalitären Staat. Aus Protest gegen die Politik der DDR hatte sich der evangelische Pfarrer in einer „politischen Aktion“ vor der Michaeliskirche in Zeitz angezündet. Wenige Tage später verstarb er im Krankenhaus. Damit wollte er gegen „Unterdrückung der Kirchen in Schulen an Kindern und Jugendlichen“ protestieren. Wolf Biermann hatte die Selbsttötung von Brüsewitz als „Republikflucht in den Tod“ bezeichnet.
Auch sein Nachfolger, Dietmar M., war ein streitbarer, regierungskritischer Mensch. In mehreren Operativen Vorgängen wurde M. von der Stasi observiert, u. a. weil er sich gegen die Pathologisierung von Brüsewitz im „Neuen Deutschland“ öffentlich zur Wehr setzte.
Der IM informierte darüber, daß es ihm gelungen ist, […] das Vertrauensverhältnis weiter zu festigen.
IMS „Hans Richters“, BArch, MfS BV Magdeburg, KD Haldensleben, Nr. 132, Bl. 86.Operativer Vorgang „Untergrund“
Innerhalb des OV „Untergrund“ war auch ein Psychiater auf ihn angesetzt. Der IMV „Hans Richters“, Matthias Nitzsche, berichtete nicht nur ausführlich über den „auskunftswilligen Pfarrer“, mit dem er sich angefreundet hatte. Seine Aufgabe bestand darin, M. „für immer bzw. längere Zeit“ in die psychiatrische Einrichtung Altscherbitz einweisen zu lassen.


Nitzsche berichtete über ein Gespräch mit dem Chefarzt der Männerabteilung an seinen Führungsoffizier Folgendes:
„wir haben ca. 1 Stunde das Problem besprochen, ohne Anwesenheit anderer Gesprächsteilnehmer. Er [CA Psychiatrie Altscherbitz] hat sich mein Kommen notiert und auch notiert, […] daß M. […] psychisch auffällig sei. […] Wir sind überein gekommen auf Grund der psychischen Störung und damit verbundenen erneuten Gefährdung und vor allem der geringen Möglichkeiten, medizinisch zu beeinflussen, daß zunächst eine Einweisung nach § 11 – also die gerichtliche Einweisung – nötig ist. Die würde nach Ablauf der kreisärztlichen Einweisung, die innerhalb von 6 Wochen abläuft, dann zum Tragen kommen. Er hat hinzugesagt, daß zwischen 15. und 20. April beim zuständigen Kreisgericht der Antrag auf gerichtliche Einweisung gestellt würde und dann eine, wie das gesetzlich üblich ist, eine geschlossene Verhandlung abläuft, so daß dann der Mann nach § 11 eingewiesen ist.“
Involviert war auch die Kreisärztin. Dennoch gelang eine langfristige Einweisung in die Psychiatrie nicht. Aber: Mittels gezielter operativer Maßnahmen wurde durch den IMS der Kontakt zum Kreiskirchenratsvorsitzenden hergestellt und zudem eine Verbindung zum Bischof in Magdeburg aufgebaut. Über diese Verbindungen konnte der IMS wirksam Einfluss auf die laufenden Zersetzungsmaßnahmen ausüben. In der Folge wurde Pfarrer M. versetzt und ein Stück weit mundtot gemacht.
Literatur und Quellen
BArch, MfS, BV Magdeburg KD Haldensleben Nr.132, Bd.1.
BArch, MfS, BV Magdeburg KD Haldensleben Nr.132, Bd.2.
Weiterführende Literatur
Süß, Sonja: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 19982 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) 14).