
Missbrauch der Psychiatrie in der DDR –
Verletzung der Schweigepflicht
In der DDR wurde die ärztliche Schweigepflicht trotz gesetzlicher Verankerung durch staatliche Eingriffe massiv eingeschränkt. Obwohl das DDR-Recht ähnliche Regelungen wie die Bundesrepublik kannte, etwa das Aussageverweigerungsrecht, verlangte es zugleich umfassendere Anzeigenpflichten (§ 225 StGB) und kannte zahlreiche Meldevorschriften. Besonders das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unterlief den Schutz vertraulicher Patientendaten systematisch. Nach § 225 StGB mussten Ärzte nicht nur geplante Straftaten melden, sondern auch Vorbereitungen oder bereits begangene Taten anzeigen, ohne die Möglichkeit, sich auf Bemühungen zur Tatverhinderung zu berufen. Zusätzlich existierte eine Vielzahl von Meldevorschriften, die die Schweigepflicht weiter einschränkten. Ärzte konnten sich rechtlich zwar auf die Auskunftsverweigerung berufen, waren in der Praxis häufig politischem Druck ausgesetzt. rotz dieser Einschränkungen gab es Fachliteratur, die die fundamentale Bedeutung der Schweigepflicht für das Arzt-Patienten-Verhältnis betonte und Ärzten rechtliche Orientierung bot.

„Wer vorsätzlich als Rechtsanwalt, Notar, Arzt, Zahnarzt, Psychologe, Hebamme, Apotheker oder als deren Mitarbeiter Tatsachen, die ihm in seiner beruflichen Tätigkeit anvertraut oder bekannt geworden sind und an deren Geheimhaltung ein persönliches Interesse besteht, offenbart, ohne dazu gesetzlich verpflichtet oder von seiner Verpflichtung zur Verschwiegenheit befreit zu sein, wird mit Verurteilung auf Bewährung; Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.“
StGB DDR (1968–1990): § 136: Verletzung des Berufsgeheimnisses
Zusätzlich übergab der GMS [IM] beide Krankenakten zur Einsichtnahme. Bemerkungen: die Akten wurden der Abt. IX übergeben. Mit dem GMS wurde darüber gesprochen, welche Maßnahmen von seiner Seite aus eingeleitet werden können, […] Dr. G. ist ständig bereit, dem MfS Auskunft zu geben, zu allen Fragen, die an ihn herangetragen werden.
Mitteilung der Staatssicherheit über die Übergabe von Krankenakten durch den Chefarzt der Stralsunder Psychiatrie, Quelle: BArch, MfS 1256/91, IMS Horst, Bl. 117.Ärztliche Schweigepflicht und Überwachung durch das MfS in der DDR
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nutzte gezielt Privatgeheimnisse aus, die Ärzten bekannt wurden, und rekrutierte dafür Informelle Mitarbeiter (IM) aus dem medizinischen Personal. Quellen hierfür sind insbesondere persönliche Akten von IM-Ärzten. Forschungsarbeiten der Juristischen Hochschule Potsdam, einer MfS-Einrichtung, dokumentieren detailliert die operative Planung und psychologische Steuerung dieser Zusammenarbeit. Dabei wurden IM strategisch geführt, überwacht und durch materielle oder prestigeorientierte Anreize beeinflusst. Ziel war die systematische Informationsgewinnung, oft unter Ausnutzung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient.
Die Praxis zeigt, dass staatliche Überwachung und politische Kontrolle die ärztliche Schweigepflicht in der DDR faktisch stark aushöhlten, obwohl sie formal gesetzlich geschützt war.
Die psychiatrische Begutachtung politischer Häftlinge war ein besonders problematischer Bereich. Das Strafrecht der DDR diente der Machtsicherung, zentrale Befugnisse blieben unklar geregelt. Vor allem Ausreisewillige oder gescheiterte Flüchtlinge wurden zu Begutachtungen gezwungen. Während offizielle Kommissionen kein Fehlverhalten feststellten, gehen Schätzungen von mehreren Hundert Betroffenen aus, die gerichtspsychiatrisch untersucht und teilweise in Kliniken eingewiesen wurden. Zudem nutzte das MfS psychologisches Wissen zur Bekämpfung politischer Gegner – etwa durch unklare Tests, psychologische Druckmittel oder den Einsatz psychotroper Substanzen. Im Haftkrankenhaus Hohenschönhausen verfügte es über einen eigenen, abgeschotteten Bereich, in dem auch Psychiater mitwirkten.

Bericht über einen Patienten des Bezirkskrankenhauses für Neurologie und Psychiatrie Stralsund
Der Direktor der Einrichtung, Horst Giermann (GMS „Horst“), übermittelte dem MfS-Hauptmann Kwasny Informationen über einen Patienten. Zweck war es, eine mögliche Simulation auszuschließen und zugleich Erkenntnisse für mögliche operative Maßnahmen zu gewinnen.
Quellen und Literatur
Opitz, Bernhard: Arzt-Patienten-Verhältnis in der DDR: Zahlreiche Verletzungen der Schweigepflicht, in: Deutsches Ärzteblatt 94 (34–35), 1997, S. A-2183-A-2191.
Erices, Rainer: Politischer Missbrauch in der Psychiatrie der DDR, in: Psychotherapeut 66, 2021, S. 282–287.
BArch MfS, BV Rostock, Abt. IX, Nr. 9
BArch, MfS Rostock AIM 1196/91, Bd. 1.
https://www.verfassungen.de/ddr/strafgesetzbuch68.htm (19.08.2025)
Weiterführende Literatur
Noreikat, Barbara: Probleme der Verantwortlichkeit des Arztes bei der Verwirklichung der Schweigepflicht nach der Gesetzgebung der DDR: dargestellt am Beispiel der Psychiatrie, Diss. med., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Berlin 1984.
Süß, Sonja: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1998.
Frewer, Andreas; Erices, Rainer: Medizinethik in der DDR: Moralische und menschenrechtliche Fragen im Gesundheitswesen, Stuttgart 2015.
Kraatz, Helmut; Szewczyk, Hans (Hg.): Ärztliche Aufklärungspflicht und Schweigepflicht: Bericht über ein Symposium der Klasse für Medizin der Deutschen Akademie der Wissenschaften (21. und 22. Januar 1966), Jena 1967 (Medizinisch-juristische Grenzfragen 10).
Burkhardt, Gerhard; Reimann, Wolfgang (Hg.): Aufklärungs- und Schweigepflicht des Arztes und seiner Mitarbeiter: medizinisch-juristische Grundlagen, Dresden 1975.
Wittenbeck, Siegfried: Schweigepflicht und Aussageverweigerungsrecht des Arztes, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 65, 1971, S. 637–641.
Schur, Horst: Zu einigen Fragen der Schweigepflicht des Arztes, in: Das Deutsche Gesundheitswesen (19), 1964, S. 2023–2026.
Gürtler, Reinhard; Heusinger, Hannelore; Lange, Hans: Zu rechtlichen Aspekten der Schweigepflicht von Ärzten und anderen Mitarbeitern des Gesundheits- und Sozialwesens, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 77 (18), 1983, S. 779–784.
Lindenthal, Franz: Zur ärztlichen Schweigepflicht, in: Neue Justiz (20), 1966, S. 688.