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Geistig beeinträchtigte Menschen
in der Psychiatrie in der DDR

Bis weit in die 1960er Jahre wurden geistig beeinträchtigte Menschen in der DDR weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeschlossen. Der parteidoktrinäre Sozialismus hatte ein stark eingeschränktes Menschenbild, das die Realität beeinträchtigter Menschen weitgehend ignorierte. Dieses theoretische Defizit hatte direkte Konsequenzen für die psychosoziale Praxis, da staatliche Anerkennung, mediale Darstellung und öffentliche Unterstützung für geistig Beeinträchtigte fehlten. Besonders betroffen waren Oligophrene aller Altersstufen sowie psychisch Kranke. Trotz der ideologischen Vorgabe des dialektischen Materialismus herrschte ein lebensfremder Umwelt-Idealismus vor, der die Lebensrealität geistig beeinträchtigter Menschen weitgehend ignorierte. In der Konsequenz bedeutete dies nicht selten Verwahrung in psychiatrischen Einrichtungen ohne Therapien.

Über 20 Jahre fehlten weitgehend adäquate öffentliche Betreuungs- und Fördermöglichkeiten. Der wachsende Druck betroffener Familien und Fachleute führte 1968 zu einer medial veröffentlichten Stellungnahme der Volkskammer, die die Situation als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definierte: 1969 folgte ein Ministerratsbeschluss über „Maßnahmen zur Förderung, Beschulung und Betreuung geschädigter Kinder und Jugendlicher sowie psychisch behinderter Erwachsener“. Insbesondere die ambulante psychiatrische Versorgung machte in den 1970er Jahren deutliche Fortschritte, wobei ein Süd-, Nordgefälle zu verzeichnen war. In Kreisen und Stadtbezirken entstanden multiprofessionell besetzte, nach dem Dispensaire-Prinzip arbeitende ambulante Abteilungen, die ein breites Aufgabenspektrum abdeckten: von Diagnostik, Therapie und Rehabilitation über Prävention und Nachsorge bis hin zu Öffentlichkeitsarbeit im jeweiligen Territorium. Demgegenüber blieben die Lebensbedingungen für psychisch Kranke und Behinderte in Großkrankenhäusern und Heimen häufig unzureichend bis katastrophal.

Die Zustände in dem Bereich sind extrem rückschrittlich. […] Es fehlte jegliche Rhabilitation, es war ein bloßes Verwahren von Menschen, ein liebloses dazu; es fehlen auch die minimalsten Voraussetzungen einer kulturellen, hygiensichen und sonstigen humnanen Unterbringung und Betreuung.

Hans Eichhorn 1981, Quelle: HAUEM, Nachlass Hans Eichhorn, unsortiert.
Aneinanderreihung von Kinderbetten in der Ueckermünder Klinik, Quelle: HAUEM.

Kinder und Jugendliche

Schwerstbehinderte Kinder waren in der DDR bis Mitte der 1980er Jahre weitgehend von schulischer Bildung ausgeschlossen und galten als „nicht förderfähig“. Sie lebten überwiegend in Familien, Pflege- oder psychiatrischen Einrichtungen, die meist weder konzeptionell noch baulich angemessen ausgestattet waren. Die Problemlage verschärfte sich durch fehlende Alternativstrukturen im Gesundheitswesen: In Fachkrankenhäusern und Psychiatrien blockierten Kinder und Jugendliche Betten, die nicht medizinischer Versorgung, sondern pädagogischer Förderung bedurften. Pflegekräfte in Psychiatrien – meist unausgebildete Hilfskräfte – waren überfordert.

Auseinandersetzung einer Pflegerin mit der Situation der täglichen Überforderung im Behindertenbereich und dem Hinterfragen, inwieweit der Umgang ein menschlicher, demokratischer ist: „Bin ich in der Lage, den Patienten gern zu haben, ihn in den Arm zu nehmen […] Ich habe in den seltesten Fällen zugegeben, daß ich hilflich [hilflos] und machtlos bin. Das fängt damit an, und nicht damit, ob die Station in Ordnung ist und beschissene Bedingungen da sind. […] Wir stellen plötzlich mit Erschrecken fest, daß manche Dinge uns nicht weitergebracht haben, weil die menschlichen Bedingungen nicht da sind. […] In unserem Interesse liegt es, wie wir als Mitstreiter mit dem Nachbar [!] anfangen zu sprechen. Wir müssen das machen als Mitbetroffene […].“ (Juni 1989)

Weder standen dafür im Gesundheitswesen entsprechend geschulte Fachkräfte noch geeignete Plätze bereit, noch sah sich die Volksbildung in der Lage, Personal in größerem Maßstab auszubilden und zu finanzieren, obwohl die Notwendigkeit sonderpädagogischer Expertise allgemein anerkannt war. Die Zusammenarbeit mit Volksbildung und Jugendhilfe war problematisch, da für schwer geistig beeinträchtigte Kinder jede Zuständigkeit abgelehnt wurde. Integrationsversuche im Schulsystem waren daher nicht möglich, Begegnungen von behinderten und nichtbehinderten Kindern fanden nur durch persönliche Initiativen statt.

Rückblickende Untersuchungen sprechen von menschenunwürdigen Zuständen, verursacht durch Personalmangel und schlechter Infrastruktur. Dennoch zeigen Archivalien und Fachliteratur Unterschiede: Vereinzelt boten Einrichtungen akzeptable Bedingungen, konfessionelle Träger meist bessere. Systematischen Missbrauch hat es nicht gegeben. Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild jenseits pauschaler Negativdarstellungen.

Quellen

HAUEM, Nachlass Hans Eichhorn, unsortiert.

Jun, Gerda: „So sieht ein sozialistischer Mensch nicht aus!“ Menschenbild und Erfahrungen aus der psychosozialen Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der DDR, in: Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis 4, 1991, S. 425–432.

Koch, Katja; Koebe, Kristina: Die ‚anderen Kinder‘ in der DDR – Zeitgenössische Quellen und literarische Texte als Quelle für die Illustration, Ergänzung und Relativierung der Diskussion zum Umgang mit geistig behinderten Kindern, in: Schriftenreihe der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock 1 (4), 2019. Online: <http://www.pl.uni-rostock.de/schriftenreihe>.

Weiterführende Literatur

Barsch, Sebastian: Geistig behinderte Menschen in der DDR. Erziehung – Bildung – Betreuung, Oberhausen 2013.

Bersch, Falk: Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen im Land Mecklenburg und in den DDR-Nordbezirken 1945 bis 1989/90, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 393–415.

Bersch, Falk: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken, hg. v. Die Landesbeauftragte für MV für die aufarbeitung der SED-Diktatur, Bd. 1–3, Schwerin 2020–2024.

Droste, Thomas: Die Historie der Geistigbehindertenversorgung unter dem Einfluß der Psychiatrie seit dem 19. Jahrhundert. Eine kritische Analyse neuerer Entpsychiatrisierungsprogramme und geistigbehindertenpädagogischer Reformkonzepte, Münster 1999.

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