
Die Rodewischer Thesen
Anfänge sozialpsychiatrischer Reformen in der DDR
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in beiden deutschen Staaten Reformbestrebungen innerhalb der Psychiatrie. Ab den späten 1950er-Jahren führten die Einführung der Psychopharmaka und sozialpsychiatrische Konzepte zu Reformdiskussionen.
Vom 23. bis 25. Mai 1963 fand im sächsischen Rodewisch das erste Internationale Symposium zur psychiatrischen Rehabilitation statt – ein bedeutendes Ereignis in der Reformbewegung der ostdeutschen Psychiatrie. Die Veranstaltung wurde von der Gesellschaft für Rehabilitation in der Gesellschaft für Hygiene, der Sektion für psychiatrisch-neurologische Rehabilitation der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR sowie den Ministerien für Gesundheitswesen der DDR und der ČSSR organisiert.
Die Rodewischer Thesen definierten Werte, die in vielen Punkten bis heute ihre Relevanz nicht eingebüßt haben. Es handelte sich bei ihnen um eine Agenda von Forderungen und Plänen, die auch aktuell noch immer den Leser in ihren Bann ziehen.
Lena Hennings: Die Entstehungsgeschichte der Rodewischer Thesen im Kontext von Psychiatrie, Sozialhygiene und Rehabilitationsmedizin der DDR, S. 6.Vorbereitung
Die Grundlage für das Symposium wurde bereits 1959 im Rahmen eines Fachausschusses für Psychiatrie beim DDR-Gesundheitsministerium gelegt. Zudem gab es eine enge Verknüpfung von Psychiatrie, Sozialhygiene und Rehabilitationsmedizin in der DDR: Sozialhygieniker, vielfach SED-Mitglieder, waren stark im Gesundheitswesen verankert und förderten so progressive Rehabilitationsansätze, die innerhalb der Psychiatrielandschaft sonst kaum Rückhalt fanden. Auch auf die Erfahrungen sowjetischer Psychiatrie sowie auf die Entwicklung des psychiatrischen Krankenhauswesens in Großbritannien wurde zurückgegriffen. Formuliert wurden sechs zentrale Punkte, die die Reformen beeinflussen sollten. Diese bildeten die Basis für die sogenannten Rodewischer Thesen, die im Jahr 1965 veröffentlicht wurden.
Das Fortschrittliche in Rodewisch:
Rolf Walther und die Klinik
Rolf Walther, Chefarzt des Fachkrankenhauses in Rodewisch, spielte eine zentrale Rolle bei der praktischen Umsetzung der Reformideen. Unter seiner Leitung wandelte sich die Klinik vom traditionellen Rückzugsort für chronisch Erkrankte zu einem beispielhaften modernen Modell. Modernisierung, soziale Aktivitäten, gemeinsames Arbeiten sowie humanistische Therapiekonzepte wurden eingeführt, und die Klinik wurde zu einem Vorbild für progressive psychiatrische Versorgung in Deutschland.


Kernforderungen der Reform
Psychiatrische Behandlung soll von Beginn an rehabilitativ ausgerichtet sein — soziale Wiedereingliederung gilt als ärztliche Aufgabe. Chronifizierung ist nicht hinzunehmen; durch kombinierte, moderne Therapien und strukturierte Nachsorge sollen Patienten wieder in Arbeit und Gesellschaft integriert werden.
Arbeitstherapie ist ein zentraler Bestandteil der Komplextherapie; ihr Zweck ist vor allem das individuelle Erleben von Tätigkeit und Schaffen mit dem Ziel frühzeitiger Entlassung und Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess.
Zu den wichtigsten Forderungen gehörten:
1. Rehabilitation
- Komplexe Therapie: Kombination aus Neuroleptika, Arbeitstherapie und Gruppenpsychotherapie; Pharmakotherapie kurzzeitig hoch, langfristig niedrig dosiert unter ärztlicher Kontrolle.
- Einrichtungen und Organisation: Öffnung der Stationen, Stationsweise Trennung akut/chronisch, separate Jugend‑ und Altersstationen; Kliniken sollen Bedingungen und Personal an allgemeine Krankenhäuser anpassen.
- Prinzipwechsel: Ersatz des Sicherungsprinzips durch ein umfassendes Fürsorgeprinzip.
- Nachsorge & Rehabilitation: Aufbau umfassender Nachsorgeprogramme, kooperative Übergänge von Arbeitstherapie zu voll erwerblicher Arbeit, Zusammenarbeit mit Betrieben und Arbeitsplatzstudien.
- Gesellschaft & Recht: Förderung von Toleranz, Prävention und Früherkennung; Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum beschränken und entsprechende Gesetze überarbeiten; humane Haltung gegenüber Erkrankten.
- Forschung & Lehre: Internationaler Erfahrungsaustausch und Forschungsaufträge; rehabilitative Konzepte stärker in der Hochschulausbildung verankern; verpflichtende praktische Ausbildungsjahre vor selbstständiger Tätigkeit.
2. Arbeitstherapie
- Frühestmöglicher Einsatz der Arbeitstherapie, idealerweise mit Rückführung in Erwerbsarbeit.
- Fokus auf den therapeutischen Erlebniswert, nicht auf Produktionsmenge oder -qualität.
- Anleitung durch ausgebildete Arbeitstherapeuten; Schaffung eines klaren Ausbildungswegs und Berufsbilds.
- Mögliche Formen: landwirtschaftliche Arbeit, Teilfertigung für Betriebe u.ä., jedoch ohne Produktionsauflagen oder Terminbindung.
- Betriebe zahlen Vergütung an die Einrichtung; ein angemessener Teil soll der Patientenbetreuung zugutekommen.
- Für Patienten, die nicht ins häusliche Milieu zurückkehren können, sollen geschützte Wohnformen (z. B. landwirtschaftliche Kollektive, Wohnheime mit Heilwerkstätten) angeboten werden.
3. Kinder- und Jugendpsychiatrie
- Grundlegende Neuorientierung der Kinder‑ und Jugendpsychiatrie, besonders im Bereich des so genannten „Schwachsinns“, gestützt auf neue Forschungsergebnisse und den Rückgang der Säuglingssterblichkeit.
- Aufbau eines Früherfassungssystems für auffällige Kinder und Einrichtung von Beobachtungskliniken mit multiprofessionellen Teams.
- Konsequenz: Ausbau von Betten‑ und Behandlungskapazitäten; viele ehemalige TBC‑Heilstätten wurden zu Fachkliniken für Kinder‑ und Jugendneuropsychiatrie umgewandelt.
Zudem wurde gefordert:
- Intensivierung der wissenschaftlichen Erforschung von Ursachen, Behandlungs‑ und Erziehungsmethoden
- Gleichstellung der psychiatrischen Krankenhäuser mit anderen Kliniken in Budgetfragen
- Schaffung eines normalen Krankenhausmilieus durch Überwindung der alten Anstaltsordnung
- Entwicklung offener Fachkrankenhäuser
- Systematische Einbindung der Rehabilitation in die stationären Therapien
- Aufbau von Tages- und Nachtstationen (erweiterte Ambulanz)
- Festlegung gemeinsamer Entwicklungsziele für die psychiatrischen Einrichtungen in der DDR
Kooperation und Beteiligung
Der Erfolg des Symposiums wurde maßgeblich durch die Zusammenarbeit reformorientierter Psychiater, Sozialhygieniker und Rehabilitationsmediziner ermöglicht. Zu den Pionieren gehörten Persönlichkeiten wie Liese-Lotte Eichler in Brandenburg, Rolf Walther in Rodewisch, Ehrig Lange in Dresden sowie das sogenannte „sozialhygienische Netzwerk“ um Karlheinz Renker und Kurt Winter. Auch auf politischer Ebene trugen Gerhard Misgeld und Alexander Mette zur Unterstützung bei.
Teilnehmende und Programm
Das Symposium zog Expertinnen und Experten hauptsächlich aus der DDR, verschiedenen sozialistischen Ländern (UdSSR, ČSSR, Ungarn, Polen, Bulgarien) aber auch aus Westdeutschland, Frankreich, den USA und Kanada an. Die Vorträge wurden in Deutsch, Russisch und Französisch gehalten. Schwerpunktthemen waren die Rehabilitation von Psychosen, Arbeitstherapie sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie.


Ergebnisse und Leitlinien
Aus den intensiven Diskussionen entstanden Empfehlungen, die in den Rodewischer Thesen zusammengefasst wurden. Die Thesen forderten eine aktive therapeutische Haltung, Öffnung der Anstalten, Ersatz des Sicherungs- durch ein Fürsorgeprinzip, differenzierte Therapien, bessere personelle und materielle Ausstattung, Ausbau ambulanter/teilstationärer Strukturen, Prävention, Reduzierung von Zwang und intensiven internationalen Austausch. Nach 1963 entstanden in einigen Orten teilstationäre Angebote und die erste Tagesklinik (Rodewisch, 1966), sowie Arbeitstherapie- und Reha-Programme, doch setzte sich ab 1971 zunehmend eine Klinikspezialisierung („Klinisierung“) durch. Dezentralisierung gelang nur lokal (z. B. Leipzig, Potsdam/Neuruppin); insgesamt blieben Kliniken das Zentrum der Versorgung. Trotz einzelner Fortschritte konnten viele der in den Rodewischer Thesen gesteckten Ziele in der DDR nicht flächendeckend oder nachhaltig umgesetzt werden.
Bedeutung und Wirkung
Dennoch war das Symposium ein Meilenstein in der DDR-Psychiatrie und zeigte deutlich: Reformen waren möglich und notwendig. Es stand exemplarisch für den internationalen Erfahrungsaustausch und die enge Verzahnung von Wissenschaft, Praxis und Lehre. Mit den Rodewischer Thesen wurde eine wegweisende Strategie formuliert, die bis heute in der reformorientierten Psychiatrie nachwirkt. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Position der Patientinnen und Patienten als passive Objekte psychiatrischer Behandlung, ihre soziale Ausgrenzung und Stigmatisierung sowie das Fürsorgeparadigma nicht hinterfragt wurden.

Quellen
Historisches Archiv des Sächsischen Krankenhauses Rodewisch, unsort.
https://www.skh-rodewisch.sachsen.de/ueber-uns/rodewischer-thesen/ (01.09.2025).
Renker, Karlheinz: Rodewischer Thesen. Internationales Symposium über psychiatrische Rehabilitation vom 23.–25.5.1963 in Rodewisch (Vogtl.), in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 11, 1965, S. 61–65.
o. A.: Protokoll über die Tagung der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie Leipzig am Freitag, dem 2. Oktober 1964 im Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch (Vogtl.), in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 17 (9), 1965, S. 349–352.
Hennings, Lena: Die Entstehungsgeschichte der Rodewischer Thesen im Kontext von Psychiatrie, Sozialhygiene und Rehabilitationsmedizin der DDR, Aus dem Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Universität zu Lübeck, Lübeck, Lübeck 2015.
Weiterführende Literatur
o. A.: Protokoll über die Tagung der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie Leipzig am Freitag, dem 2. Oktober 1964 im Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch (Vogtl.), in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 17 (9), 1965, S. 349–352.
Baar, Elisabeth: Die Rodewischer Thesen. Ausdruck der Reformbewegung in der Psychiatrie der DDR und ihre weitere Bedeutung, Norderstedt 2009.
Hennings, Lena: Die Rodewischer Thesen und das Symposium über psychiatrische Rehabilitation 1963 in Rodewisch, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 20, 2014, S. 385–409.
Hess, Volker: The Rodewisch (1963) and Brandenburg (1974) propositions, in: History of Psychiatry 22 (86 Pt 2), 2011, S. 232–234.
Lange, Ehrig: Die Rodewischer Thesen 1963 – Vermächtnis und Verpflichtung, Bekenntnis und Verwirklichung, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 31 (7), 1979, S. 385–392.
Neumann, Monika: Ohne Kittel, ohne Titel – die Rodewischer Thesen brachten uns die Sozialpsychiatrie oder: Arbeiter kriegen keine Neurosen, in: Winkler, Regina (Hg.): Wenn die Magnolie blüht. Arbeitsort Herzberge. Eine Dokumentation, Berlin 2001, S. 156–160.
Schmiedebach, Heinz-Peter; Beddies, T.; Schulz, J. u. a.: Offene Fürsorge – Rodewischer Thesen – Psychiatrie-Enquete: Drei Reformansätze im Vergleich., in: Psychiatrische Praxis 27 (3), 2000, S. 138–143.
Späte, Helmut F.: 15 Jahre Rodewischer Thesen, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 25 (7), 1979, S. 552–554.
Späte, Helmut F.: Die Rodewischer Thesen 1963 und 1983 – Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für die Rehabilitation psychisch Kranker, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 35 (2), 1989, S. 106–108.
Steinberg, Holger: Karl Leonhard hat «kein Interesse!» – Hintergründe über das Rodewischer Symposium aus neu aufgetauchten Quellen., in: Psychiatrische Praxis 41 (2), 2014, S. 71–75.
Uhle, Matthias; Weise, Klaus: Zu einigen Entwicklungsfragen psychiatrischer Betreuungsorganisation in der DDR 25 Jahre nach Rodewisch, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 40 (12), 1988, S. 697–703.
Waldmann, Klaus-Dieter: Die Realisierung der Rodewischer Thesen zu DDR–Zeiten – Versuch einer Analyse aus heutiger Sicht, in: Psychiatrische Praxis 25 (4), 07.1998, S. 200–203.