Bezirksnervenklinik Schwerin

Abteilung für Psychotherapie

1974 wird in der Bezirksnervenklinik Schwerin unter Chefarzt Dr. Waldemar Gunia eine eigenständige psychotherapeutische Station eröffnet. Diese bietet mit einem Facharzt und einem Psychologen Platz für bis zu 20 stationäre sowie weitere 120 ambulante Patienten. Das Behandlungsangebot umfasst die Intendierte Dynamische Gruppentherapie (IDG) nach Kurt Höck, Verhaltenstherapie und Autogenes Training. Ab den 1980er Jahren wird außerdem die Methode der konzentrativen Entspannung nach Anita Wilda-Kiesel ergänzt und von geschulten Fachphysiotherapeuten angeboten.

Therapeutische Strömungen und Behandlungssetting

Wie in den meisten Kliniken bilden auch in Schwerin Anfang der 1960er Jahre Methoden der Verwahrpsychiatrie sowie Arbeitstherapie die gängige Behandlungsform von psychisch Erkrankten. Horst Berthold, der damalige Klinikleiter, übt gemeinsam mit Klinikleitungen von anderen Standorten Kritik an der nach wie vor gängigen Verwahrpsychiatrie. Die Kritik richtet sich besonders an die Rückständigkeit des therapeutischen Klimas, der Klinikausstattung und der Therapieangebote. Ein erster großer Entwicklungsschritt in der psychiatrischen Versorgung am Standort Schwerin gibt es nach der Formulierung der Rodewischer Thesen im Jahr 1963. In den Folgejahren findet eine Abkehr von den verwahrpsychiatrischen Methoden der 1960er Jahre hin zu erneuerter Krankenhauspsychiatrie statt. Stationen werden offener gestaltet, Schwesternarbeit aufgewertet sowie die Nachsorge und die arbeitstherapeutischen Verhältnisse verbessert. Im gleichen Prozess gewinnt auch die Psychotherapie in der Bezirksklinik an Relevanz, Ende der 1960er-Jahre ebenso die Behandlung von Alkoholabhängigen.

1974 wird an der Schweriner Klinik unter Leitung von Chefarzt Dr. Waldemar Gunia eine eigenständige psychotherapeutische Station mit einem Facharzt und einem Psychologen eröffnet, auf welcher in der Folge um bis zu 20 stationäre sowie weitere 120 ambulante Patienten aufgenommen werden können.

In seiner ärztlichen Tätigkeit befasst sich Waldemar Gunia mit dem Verfahren der Kommunikativen Bewegungstherapie. Überdies ist er aktives Mitglied der dazugehörigen Arbeitsgruppe (AG) und stellt dieser Therapieräume in Schwerin zur Verfügung. Gunia nimmt in diesem Rahmen an mehrtägigen Selbsterfahrungsweiterbildungen teil, ab den 1980er Jahren fungiert er zudem als Leiter der AG bzw. Supervisor in den Kommunitäten. Ab 1986 übernimmt Gunia die Leitung der Nord-Kommunitäten, im gleichen Jahr hält er einen Vortrag zum Thema „Teilzielbestimmung in der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie und deren Intendierung durch die Kommunikative Bewegungstherapie“ auf der 7. Arbeitstagung der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der in Karl-Marx-Stadt.

Forschung und Lehre

In der Schweriner Klinik finden Kongresse der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in der DDR (GÄP) statt, deren 3. Jahreskongress wird im Jahr 1965 unter der Leitung von Hellmuth Kleinsorge, dem damaligen Klinikleiter, zum Thema Probleme der Psychotherapie des höheren Lebensalters abgehalten. Auch 1967 findet der Kongress der GÄP unter der Leitung H. Kleinsorges in Schwerin statt, diesmal mit thematischen Schwerpunkten auf funktionellen Erkrankungen, sexuellen Störungen und Berufskonflikten.

Vom 8. bis 12. Oktober 1973 findet in der Bezirksnervenklinik Schwerin eine Psychotherapiewoche für Ärzte aller Fachgebiete statt. Die wissenschaftliche Leitung übernimmt Prof. Dr. Harro Wendt, inhaltlich stehen Ätiopathogenese, Diagnostik und Therapie von Neurosen mit Symptomen aus allen Fachgebieten im Fokus der Psychotherapiewoche.

Nach der Einführung der Methode der konzentrativen Entspannung findet in der Schweriner Klinik 1988 eine Arbeitstagung der Arbeitsgruppe (AG) Kommunikative Bewegungstherapie der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der GÄP statt. Auf der Tagung wird jene Methode, meist in mehreren Gruppen und immer zu zweit, mit den sich ständig erweiternden und vertiefenden praktischen und theoretischen Erkenntnissen erklärt und geübt.

Entwicklung des Standorts

Bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts existiert in Dömitz ein „Zucht-, Werk- und Irrenhaus“, das einem vom damaligen Großherzogs Friedrich Franz I. veranlassten Untersuchungsbericht zufolge allerdings eher einem Gefängnis als einer Heilanstalt gleicht. Psychisch erkrankte Menschen werden dort unter unwürdigen Bedingungen in mit Stroh eingerichtete Zellen eingesperrt, ohne dass eine Behandlung stattfindet. Auf Anordnung des Großherzogs werden die Zustände vor Ort näher untersucht, was schließlich zu dem Beschluss führt, eine Heilanstalt mit verbesserten Bedingungen für psychisch Kranke zu errichten. Diese Einrichtung sollte eine gezielte Versorgung im Raum Mecklenburg-Vorpommern ermöglichen.

Am 15. Januar 1830 wird die 180m lange und baulich schlossähnliche neue Irren-Heilanstalt Sachsenberg am gleichnamigen Standort bei Schwerin eröffnet. Die Leitung übernimmt der 25-jährige Dr. Carl Friedrich Flemming, der maßgeblich an der Entwicklung des Klinikkonzepts beteiligt ist und der Klinik später auch seinen Namen verleiht. Patienten erfahren hier ein für die damalige Zeit modernes Angebot, in dem u.a. mit der Arbeitstherapie auch erste therapeutische Ansätze einen Platz finden. Das Klinikkonzept ist eher offen und großzügig in der Raumgestaltung.

Die neu entstandene Anstalt entspricht zur damaligen Zeit modernsten Standards. Je nach (finanziellem) Stand werden die Patienten in Schlafsälen für bis zu 15 Personen bzw. separaten Wohn- und Schlafräumen untergebracht. Der allgemeine Charakter der Klinik ist freundlich und wohnlich gehalten, die Umgebung unterscheidet sich nicht allzu stark von gewöhnlichem Wohnraum. Entsprechend sind beispielsweise die Gitterstäbe vor den Zimmerfenstern mit Holz verkleidet. Auch die Sanitäreinrichtungen der Klinik gelten als gut. Überdies ist ein Park im englischen Stil an das Gelände angeschlossen. Um der steigenden Patientenzahl Herr zu werden, wird die Anstalt bis 1912 um zahlreiche Erweiterungsbauten ergänzt. Während des Ersten Weltkrieges steigt die Sterberate in der Anstalt stark an, was die Belegungszahlen kurzzeitig schwanken lässt. Bereits 1930 ist die Klinik jedoch wieder vollständig (über)belegt. Eine beheizte Kegelbahn, Musikinstrumente, Boote sowie kulturelle Veranstaltungen und eine umfangreiche Bibliothek können von den Patienten genutzt werden.

Während des Nationalsozialismus beteiligt sich dieKlinik maßgeblich an der „T4 Aktion“, aufgrund derer 275 Patienten vom Sachsenberg in die Tötungsanstalt Bernburg verlegt und ermordet werden. Zwischen 700 und 1.900 weitere Menschen fallen dem sog. Euthanasieprogramm vor Ort zum Opfer. Nach 1945 werden einige Gebäude des Klinikkomplexes für die Beherbergung von Kriegsflüchtigen verwendet. In den Folgejahren hat die Anstalt in der Folge immer wieder mit Kapazitätsproblemen zu kämpfen, was unter anderem an der Selbstversorgungstruktur liegt. Um den alltäglichen Betrieb aufrecht erhalten zu können, werden auch arbeitsfähige Patienten eingesetzt. Zum Teil werden Patienten sogar später entlassen, um auf dem Klinikgelände weiter arbeiten zu können, wodurch wiederum weniger Betten für neue Patienten frei werden.

1974 bestehen an der Klinik Kapazitäten für bis zu 20 stationäre sowie weitere 120 ambulante Patienten.

Quellen und Literatur

Böttcher, B. (2011). Die Konzentrative Entspannung als Relaxationsverfahren. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 552-555. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Ehle, G. (2011). Psychotherapie in der Psychiatrie. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 586-591. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Flemming, C. (1833). Die Irrenheilanstalt Sachsenberg bei Schwerin im Großherzogtum Mecklenburg: Nachrichten über ihre Entstehung, Einrichtung, Verwaltung und bisherige Wirksamkeit. https://www.digitalesammlungen.de/en/view/bsb10286441?page=24,25

Fuchs, J., Jähme, W., Keyserlingk, H. v., & Moldenhauer, E. (2012). Die Nervenklinik Schwerin in der Zeit der ‘Wende’ 1989/1990 (1. Auflage). Edition Palmhahn.

Haack, K., Kasten, B. & Pink, J. (2016). Die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg-Lewenberg 1939-1945. Erinnerungsorte in Mecklenburg-Vorpommern, Bd 2. Schwerin.

Höck, K. (1979). Psychotherapie in der DDR – Eine Dokumentation zum 30. Jahrestag der Republik.

König, W. (2011). Von der Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960 zur 5. Jahrestagung von Bad Elster 1969. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 151-161. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Ott, J. (1973). Mitteilungen der Gesellschaft f. ärztliche Psychotherapie der DDR. Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie, 25(8), S. 503–505.

Pontzen, N. & Steinberg, H. (2024). Die Wegbereiter Schwerin und Brandenburg-Görden bei der Entwicklung der Therapie von Alkoholkonsumstörungen in der DDR. Georg Thieme Verlag KG.

Seidler, C. (2011). Selbsterfahrung mit der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie während der Wende. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 765-772. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Von Appen, M. (2020). „So daß wir allmählich den Charakter der Anstalt abschütteln können und zu einer Klinik aktiver Behandlung werden“ Die Umgestaltung der Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg bei Schwerin im Kontext der DDR-Reformpsychiatrie in den 1960er Jahren. In: E. Kumbier (Hrsg.), Psychiatrie in der DDR II: Weitere Beiträge zur Geschichte, S. 355–375.

Wilda-Kiesel, A. (2011a). Die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie und ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 549-552. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Wilda-Kiesel, A. (2011b). Die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie in der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. In M. Geyer (Hrsg.), Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, S. 329-331. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.