Bedarf an Psychotherapie

Höck, selbst Zeitzeuge und zentraler Akteur der DDR-Psychotherapie, fasst die Versorgungssituation in der Psychotherapie bis 1979 zusammen. Er dokumentiert dabei die Existenz von 40 psychotherapeutischen Einrichtungen mit über 600 Betten und rund 150 tätigen Ärzten und Psychologen. Neben den von Höck für das Jahr 1979 erfassten Daten zu psychotherapeutischen Einrichtungen und Betten liegen teilweise auch Angaben zu stationären Behandlungen vor. So wurden 1971 insgesamt 89.642 Fälle dokumentiert, davon 30.784 unter der Diagnose „Neurosen, Persönlichkeitsabartigkeiten und sonstige nicht psychotische Störungen“; 1976 betrug die Gesamtzahl 86.686 Fälle, darunter 36.902 Neurosen. Nach dem Mauerfall war die stationäre, ausschließlich psychotherapeutische Versorgung – also ohne psychiatrische Anteile – bis 1990 in Ostdeutschland stark angestiegen und lag international vergleichsweise hoch, mit etwa 760 Betten in der ehemaligen DDR.

In einer umfangreichen Repräsentativuntersuchung des SiSaP-Projekts und des Projekts DDR-Psych zeigte sich, dass rund 13 % der Menschen, die in den Neuen Bundesländern leben und die DDR miterlebten (vor dem 1. Januar 1980 geboren wurden; „DDR-Sozialisierte“) eine Psychotherapie begonnen zu haben – größtenteils allerdings nach der Wende. Etwa 10,4 % hatten eine Therapie abgeschlossen, 1,8 % befanden sich aktuell in Behandlung und 1,4 % hatten eine Therapie abgebrochen. Nur etwa 1 % (n=19) verfügten über Psychotherapieerfahrungen aus DDR-Zeiten. Zudem gaben 2,9 % an, dass sie vergeblich versucht hatten, eine Therapie zu beginnen – davon entfielen lediglich 0,2 % auf die DDR, der Rest auf die Zeit danach. Die meisten Personen waren nur einmal in Therapie, sowohl vor als auch nach der Wende. Bei den DDR-Sozialisierten war sowohl vor als auch nach der Wende die ambulante Versorgung am häufigsten, meist in Form von Einzeltherapie oder kombiniert mit Gruppentherapie; reine Gruppentherapie kam seltener vor. Bezüglich der Inanspruchnahme von Hilfe bei seelischem Leid zeigte sich, dass DDR-Sozialisierte heute häufiger Unterstützung nutzen als noch zu DDR-Zeiten. Entsprechend gaben auch deutlich weniger Personen an, heutzutage mit niemandem über ihr seelisches Leiden zu sprechen. Anhand dieser Befragung zeigte sich auch, dass Personen, die von staatlichen Repressionen in der DDR persönlich oder indirekt beispielsweise über Familienangehörige betroffen waren, heute sehr viel öfter in Psychotherapie gehen. Haft und Zersetzung stellen beispielsweise zwei Unrechtsformen dar, ein Gesamtüberblick bekannter Opfergruppen findet sich bei Gallistl und Kollegen (2024). Die Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden durch Repressionen ist dabei nicht nur medizinisch, sondern auch sozialrechtlich und politisch relevant und wird zunehmend auf Basis neuer klinischer Erkenntnisse – etwa zur komplexen PTBS (kPTBS) – diskutiert. Eine stärkere interdisziplinäre Vernetzung zwischen klinischen Fächern und Sozialwissenschaften ist wünschenswert, da gesellschaftliche Dimensionen psychischen Leids bislang zu wenig berücksichtigt werden.

Quellen und Literatur

Dührssen A, Körner J, Rudolf G et al. (1990). Die Psychotherapie zum Ende des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Bereich – eine Übersicht. in: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse Bd. 36(2), S. 101-185.

Gallistl, A., Schneider, N., & Strauß, B. (2024). Bedarfe und klinische Versorgung Betroffener von SED-Unrecht. in: Die Psychotherapie, Bd. 69(5), S. 315-324, https://doi.org/10.1007/s00278-024-00737-2.

Höck K. (1979). Psychotherapie in der DDR. Eine Dokumentation zum 30. Jahrestag der Republik. Teil 1. Berlin.

Kaufmann, M.-T., Nussmann, H. D., Heller, A., Brähler, E., Gallistl, A., & Strauß, B. (2024). Aspekte der Inanspruchnahme von Psychotherapie in Deutschland zu Zeiten der DDR und danach. in: PPmP-Psychotherapie· Psychosomatik· Medizinische Psychologie, 74(09/10), S. 383-394.

Kaufmann, M.-T., Nussmann, H. D., Heller, A., Kasinger, C., Braehler, E., Gallistl, A., & Strauss, B. (2025). The long arm of repression: Determinants of psychotherapy use among East Germans and its relevance for todays institutional trust-Psychotherapeutic implications of political repression in the former German Democratic Republic. in: Frontiers in Public Health, Bd. 13, 1601917.

Winter, K. (1974). Das Gesundheitswesen in der Deutschen Demokratischen Republik: eine Bilanz zum 25. Jahrestag der Staatsgründung: mit 48 Abbildungen und 63 Tabellen. Berlin.

Winter, K. (1980). Das Gesundheitswesen in der Deutschen Demokratischen Republik. Mit 43 Abbildungen und 65 Tabellen. 2., überarb. Auflage. Berlin.