
Arzneimittelstudien in der DDR –
Entwicklung, Kontrolle und internationale Zusammenarbeit
Seit 1956 koordinierte die DDR die Forschung an psychotropen Wirkstoffen innerhalb der Arbeitsgemeinschaft der Pharmakologen. Neben volkseigenen Betrieben war auch die westdeutsche Pharmaindustrie aktiv, wenngleich die Zusammenarbeit kaum kontrolliert wurde. Ein Großteil der klinischen Versuchsdaten wurde nicht systematisch dokumentiert, sondern im Rahmen informeller Absprachen vereinbart. Die Spitzelberichte der Stasi belegen beispielsweise, dass einzelne Ärzte, etwa in der Hallenser Nervenklinik, regelmäßig an klinischen Tests neuer Neuroleptika beteiligt waren – manchmal ohne formelle Dokumentation oder Zustimmung der Patienten.
Standards und Regulierung der Arzneimitteltests in der DDR
Mit der Einführung eines Arzneimittelgesetzes im Jahr 1964 wurde die klinische Forschung in der DDR staatlich kontrolliert. Neue Präparate mussten eine Wirksamkeitsprüfung durchlaufen, und alle Studien bedurften der Genehmigung durch das Ministerium für Gesundheitswesen. Ein Zentraler Gutachterausschuss bewertete Studien hinsichtlich Nutzen, Risiken und Nebenwirkungen. Das Ziel war, die Qualität der Prüfungen auf hohem Niveau zu sichern und die Kontrolle über die klinische Entwicklung neuer Medikamente zu zentralisieren. Das Verfahren galt für inländische und importierte Präparate sowie für Forschung in den DDR-eigenen Studienzentren.

Ordnung zur Durchführung von sog. honorierten klinischen Auftragsuntersuchungen – gemeint waren damit die Medikamentenstudien für westliche Pharmahersteller. Diese Ordnung baute auf das Arzneimittelgesetz und weitere Durchführungsrichtlinien der DDR auf, Quelle: BArch, MfS, HA XX, Nr. 7244 Bd. 1, Bl. 83.
Internationale Vernetzung und Devisentests
Im Zuge der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kooperationen im Rahmen des sogenannten IMEX-Programms (Immaterielle Arzneimittel-Exporte) beteiligte sich die DDR an einer großen Anzahl klinischer Studien für die internationale Pharmaindustrie. Ab 1982/83 wurden klinische Studien in der DDR systematisch im Rahmen eines verpflichtenden Devisenprogramms des Gesundheitswesens betrieben. Wichtige Einnahmequellen waren der Verkauf von Blut- und Plasmaprodukten, dazu kamen Kuren und die Ausbildung ausländischer Ärzte. Ergänzend führte die DDR für westliche Pharmafirmen Medikamententests durch, um zusätzliche Devisen für die angeschlagene Wirtschaft zu erwirtschaften.
In diesem Rahmen fanden Hunderte Studien mit einer fünfstelligen Zahl von Patienten statt, darunter auch Untersuchungen zu Antidepressiva und anderen Psychopharmaka. Sie folgten grundsätzlich internationalen Standards, waren oft placebo-kontrolliert und schlossen zum Teil schwerstkranke Patienten ein. Verträge mit den westlichen Firmen sowie das DDR-Arzneimittelrecht verlangten eine Aufklärung und Zustimmung der Patienten. In den zugänglichen Archiven finden sich jedoch kaum Unterlagen, die diesen Prozess dokumentieren. Ob und in welchem Umfang die Patienten tatsächlich informiert wurden, bleibt daher offen. Für viele bedeuteten die Studien zugleich die Chance, Zugang zu dringend benötigten modernen Medikamenten zu erhalten. Für die ostdeutsche Wissenschaft eröffnete die Teilnahme zudem einen Zugang zur internationalen Psychopharmakologie und zur Entwicklung neuer Wirkstoffe.

Dieser Auszug aus einer Stasiakte zu den Medikamententests für westliche Pharmafirmen Ende der 1980er Jahre beschreibt wesentliche Details zu diesen Studien, Quelle: BArch, MfS, HA XX, Nr. 6869, Bd. 1, Bl. 178.
Fazit
Die Arzneimittelforschung in der DDR war von einer engen Zusammenarbeit zwischen Staat, Wissenschaft und Industrie geprägt und orientierte sich an internationalen Normen. Ab den 1980er Jahren wurde sie im Rahmen des Devisenprogramms stark in klinische Studien westlicher Firmen eingebunden. Besonders in der Psychopharmakologie kam es so zur Beteiligung an der Erprobung neuer Wirkstoffe und zur Anbindung an internationale Entwicklungen. Zugleich bleibt offen, in welchem Maß die Abläufe tatsächlich den vorgeschriebenen Standards entsprachen.
Quellen
BArch, MfS, HA XX, Nr. 7244, pp. 83–84. „Ordnung zur Durchführung von honorierten klinischen AU“, 23. August 1983.
Hess, Volker: Klinische Psychopharmakaforschung im Auftrag westlicher Pharmaindustrie in der DDR, 1960–1990, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 263–276.
Erices, Rainer; Frewer, Andreas; Gumz, Antje: Testing ground GDR: Western pharmaceutical firms conducting clinical trials behind the Iron Curtain, in: Journal of Medical Ethics 41 (7), 07.2015, S. 529–533. Online:
Erices, Rainer, Frewer, Andreas, & Gumz, Antje: Versuchsfeld DDR: Klinische Prüfungen westlicher Pharmafirmen hinter dem Eisernen Vorhang. In Frewer, Andreas; Erices, Rainer (Hg.): Medizinethik in der DDR. Moralische und menschenrechtliche Fragen im Gesundheitswesen (Bd. 13), Stuttgart 2015; S. 129–144.
Erices, Rainer: Arzneimitteltests in der DDR: Testen für den Westen, in: Deutsches Ärzteblatt 110, 08.07.2013, S. A-1358 / B-1191 / C-1175.
Erices, Rainer: Arzneimitteltests in der DDR: Testen für den Westen (II), in: Deutsches Ärzteblatt 111, 01.01.2014, S. A 25-26.
Retzar, Ariane; Friedrich, Christoph: Klinische Prüfungen in der DDR im Auftrag der Firma Boehringer Mannheim, in: Geschichte der Pharmazie 66, 2014, S. 4–12.
Weiterführende Literatur
Meyer, Ulrich: „Man sollte die Entwicklung nicht hemmen“ – Fritz Hausschild (1908–1974) und die Arzneimittelforschung der DDR, in: Pharmazie 60 (2005), S. 468–472.
Hess, Volker; Hottenrott, Laura; Steinkamp, Peter: Testen im Osten. DDR-Arzneimittelstudien im Auftrag westlicher Pharmaindustrie, 1964-1990, Berlin-Brandenburg 2016.
Klöppel, Ulrike : 1954: Brigade Propaphenin arbeitet an der Ablösung des Megaphen. Der prekäre Beginn der Psychopharmakaproduktion in der DDR, in: Nicolas Eschenbruch et al. (Hrsg.), Arzneimittel des 20. Jahrhunderts. Historische Skizzen von Lebertran bis Contergan, Bielefeld 2009, S. 199–227.
Balz, Viola ; Hoheisel, Matthias: East Side Story: The Standardization of Psychotropic Drugs at the Charité Psychiatric Clinic 1955–1970, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 42 (2011), S. 453–466.