Die Rodewischer Thesen 2.0

Im Jahr 1988 feierten die Vorstände der Sektion Psychiatrie der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR sowie die Gesellschaft für Rehabilitation den 25. Jahrestag der Verabschiedung der „Rodewischer Thesen“ von 1963 und den 5. Jahrestag ihrer offiziellen Veröffentlichung im Jahr 1983.

Dabei wurde das Ziel formuliert, den Rehabilitationsprozess noch umfassender und nachhaltiger zu gestalten. Auf die Bedeutung einer kontinuierlichen, abgestuften, lebensbegleitenden Betreuung, bei der die Behandlung nahtlos über die verschiedenen Lebensphasen hinweg erfolgen sollte, wurde verwiesen. Das zentrale Prinzip war das der lückenlosen Rehabilitationskette, die alle Lebensbereiche umfassen sollte. Statt nur auf Diagnosen zu reagieren, sollten die vorhandenen Fähigkeiten der Betroffenen gestärkt werden, um die gesellschaftliche Integration zu fördern. Dabei spielte die Orientierung an den Ressourcen und Funktionen der Menschen eine zentrale Rolle. Es ging nicht mehr nur um die Behandlung einer Erkrankung, sondern um eine umfassende Unterstützung, die die Fähigkeiten der Patienten in ihrem gewohnten Umfeld erhält und ausbaut.

Jubiläum und historische Bedeutung der „Rodewischer Thesen“

Die Tagung, die 1963 im Bezirksfachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch/Vogtland stattfand, war ein Meilenstein. Experten aus der DDR und anderen sozialistischen Ländern Europas verabschiedeten die „Empfehlungen für die Rehabilitation psychisch akut und chronisch Kranker“, die später unter dem Begriff „Rodewischer Thesen“ bekannt wurden. Ihre Anerkennung in der DDR erhielten sie offiziell erst 1983. Führende Psychiater würdigten die Thesen als Meilenstein, der sowohl die medizinische Versorgung als auch die gesellschaftliche Integration psychisch Kranker maßgeblich mitprägt habe. Der Einfluss auf die Weiterentwicklung der gesamten Rehabilitationsarbeit, insbesondere auf die Vernetzung zwischen Medizin, Soziales, Pädagogik und Psychologie sei enorm gewesen, so etwa Helmut Späthe. Die Schwierigkeiten bei der häufig nur regional gelungenen Umsetzung wurden hingegen kaum erwähnt.


25 Jahre nach der ersten Rodewischer Tagung erscheint es uns notwendig, einige fachideologische Mißverständnisse und Hemmfaktoren auf zuzeigen.

Uhle, Matthias; Weise, Klaus: Zu einigen Entwicklungsfragen psychiatrischer Betreuungsorganisation in der DDR 25 Jahre nach Rodewisch, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 40 (12), 1988, S. 697–703, hier S. 698.

Forschung und Praxis

Beim 25jährigen Jubiläum 1988 wurde betont, dass es noch viele offene Fragen der Rehabilitation in der DDR gäbe, die der wissenschaftlichen Bearbeitung bedürften. Die Koordination zwischen Hochschulkliniken und den Einrichtungen des Gesundheitswesens sollte ausgebaut, die Forschung intensiver betrieben werden, um die Effektivität der Maßnahmen zu erhöhen.

Dabei wurde betont, dass eine optimale Therapie nur unter optimalen Bedingungen möglich ist. Daher sollten die baulichen und organisatorischen Voraussetzungen der psychiatrischen Einrichtungen entsprechend den sozialistischen Zielvorstellungen angepasst werden. Die Infrastruktur, Ausstattung, Personalstärke und Qualifikation der Mitarbeiter mussten den Anforderungen an eine moderne, patientenorientierte Versorgung entsprechen.

Anfang der 1980er Jahre ist in der DDR-Psychiatrie ein Trend erkennbar, neue Betreuungsmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen – jenseits der Verwahrpsychiatrie in Großkrankenhäusern – endlich umzusetzen. Hintergrund bildet der Ministerratsbeschluss vom 04.08.1981, in dem es heißt: “ […] für die psychiatrische Betreuungsstrategie [wird] das durchgehende vielstufige psychiatrische Betreuungssystem, dessen Schwerpunkt wesentlich mehr in die Peripherie, in den Wohn- und Arbeitsbereich der Bevölkerung verlagert ist, weiter zu entwickeln und in seiner Wirksamkeit wesentlich zu erhöhen“ sein. Nicht selten wird auf das 20- bzw. 25jährige Jubiläum von Rodewisch verwiesen.

Kosten, Effizienz und gesellschaftliche Verantwortung

Auch die wirtschaftlichen Aspekte blieben nicht unbeachtet. Die hohen Kosten der psychiatrischen Versorgung sollten mit der Bedeutung der Behandlung der psychisch Erkrankten in Einklang gebracht werden. Die bisherigen niedrigen Kostensätze in Fachkrankenhäusern wurden als nicht mehr gerechtfertigt angesehen. Es wurde gefordert, die Ausgaben an das Niveau anderer vergleichbarer Einrichtungen anzupassen, um die Qualität der Versorgung zu sichern.

Zur weiteren Verbesserung der Versorgung sollte die Öffentlichkeitsarbeit ausgeweitet werden. Ziel war es, Vorurteile gegenüber psychisch beeinträchtigten Menschen abzubauen, das Verständnis für psychische Erkrankungen zu fördern und die gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen. Die Öffentlichkeit sollte – stärker als bisher – sachlich aufgeklärt werden, um das Stigma gegenüber psychisch Kranken abzubauen und die Betroffenen in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe zu stärken.

Eine bereits etablierte Arbeitsgruppe, die 1983 in Rodewisch gegründet worden war, sollte aktiviert werden, um die Öffentlichkeitsarbeit weiter voranzutreiben. Es galt, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine offene und verständnisvolle Gesellschaft gegenüber psychisch Erkrankten zu schaffen.

Entwicklung einheitlicher Rahmenprogramme

Zur Sicherstellung einer möglichst einheitlichen und qualitativ hochwertigen Rehabilitationsarbeit sollten für die wichtigsten Krankheitsbilder und Behinderungen Rahmenprogramme entwickelt werden. Diese Programme sollten klare Standards und Vorgehensweisen vorgeben, um eine einheitliche Qualität in der Behandlung zu gewährleisten. Bei kleineren Fallzahlen oder fehlenden Ressourcen könnten solche Programme auf mehrere Kreise oder Regionen verteilt werden, um eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen müsse kontinuierlich überprüft, wissenschaftlich gestützt und an neue Erkenntnisse angepasst werden.

Grenzen der psychiatrischen Rehabilitation

Trotz aller Fortschritte wurde anerkannt, dass die psychische Rehabilitation ihre Grenzen hat. Es wurde betont, dass bestimmte Krankheitsbilder, vor allem bei schweren Defiziten an Antrieb und Zielgerichtetheit, nicht vollständig rehabilitiert werden könnten. Die therapeutische Wirksamkeit sei bei manchen Patienten naturgemäß eingeschränkt, was die Zielsetzung realistischer mache.

Zudem wurde hervorgehoben, dass die Disziplin der Psychiatrie vor allem eine klinische Aufgabe sei. Soziale Probleme könnten nicht allein durch psychiatrische Maßnahmen gelöst werden. Es bleibe notwendig, externe sozialpädagogische Betreuungssysteme für schwerbehinderte Menschen, Drogenabhängige und charakterlich auffällige oder kriminelle Personen aufzubauen. Die Zusammenlegung dieser Gruppen in psychiatrischen Einrichtungen sei schädlich, da sie das therapeutische Klima negativ beeinflusse.

Bedarf an spezieller Betreuung von Kindern und Jugendlichen

Besondere Bedeutung wurde der Kontinuität der Rehabilitation während des gesamten Lebensalters eingeräumt. Bereits auf dem 1963 in Rodewisch verabschiedeten Impuls sollte die Versorgung von Kindern und Jugendlichen stärker berücksichtigt werden. Ziel war es, die Vernetzung der Versorgung durch eine engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachsektionen, etwa Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie, zu verbessern.

Es wurde betont, dass die frühzeitige und kontinuierliche Betreuung die Grundlage für eine erfolgreiche Rehabilitation im späteren Leben sei. Dafür sollten Ressourcen gebündelt, gemeinsame Konzepte entwickelt und interdisziplinäre Zusammenarbeit intensiviert werden.

Zielsetzung und gesellschaftliche Verantwortung

Abschließend wurde hervorgehoben, dass die Fortschritte der letzten Jahrzehnte beachtlich seien, die Herausforderungen jedoch weiterhin groß blieben. Das Ziel der psychiatrischen Rehabilitation müsse weiterhin darin liegen, psychisch Erkrankte in die Gesellschaft zu integrieren und ihre Lebensqualität nachhaltig zu verbessern. Dazu seien eine kontinuierliche wissenschaftliche Weiterentwicklung, eine Verbesserung der Infrastruktur und eine breite gesellschaftliche Akzeptanz notwendig.

Die gemeinsame Verantwortung aller gesellschaftlichen Akteure sei zentral: Die Gesellschaft müsse auf Verständnis, Unterstützung und Respekt gegenüber psychisch Kranken setzen, um Vorurteile abzubauen und eine möglichst humane Versorgung zu gewährleisten. Nur durch eine enge Verbindung von klinischer Versorgung, gesellschaftlicher Integration und wissenschaftlicher Forschung könne die psychiatrische Rehabilitation in der DDR weiter verbessert werden und den humanistischen Ansprüchen des sozialistischen Staates gerecht werden.

Quellen

Uhle, Matthias; Weise, Klaus: Zu einigen Entwicklungsfragen psychiatrischer Betreuungsorganisation in der DDR 25 Jahre nach Rodewisch, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 40 (12), 1988, S. 697–703.

Mitteilungen der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 41 (2), 1989, S. 114–119.

Weiterführende Literatur

Späte, Helmut F.: Die Rodewischer Thesen 1963 und 1983 – Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für die Rehabilitation psychisch Kranker, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 35 (2), 1989, S. 106–108.

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