
Akteur

Prof. Dr. med. Rudolf Thiele (1888–1960)
Psychiater und Hochschullehrer
Die Berufung Rudolf Thieles auf den renommierten Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Berliner Charité im Jahr 1948 erscheint zunächst überraschend. Seine lange akademische Laufbahn, vielfältige wissenschaftliche Arbeiten und seine komplexe politische Vergangenheit spiegeln die wechselhafte deutsche (Psychiatrie)Geschichte wider.
Um der wissenschaftlich völlig toten Nervenklinik der Charité neuen Impuls zu geben, haben wir uns entschlossen, den namhaften Bonhoeffer-Schüler Professor Dr. Thiele als Professor mit vollem Lehrauftrag trotz politischer Belastung wieder einzustellen.
Schreiben der Humboldt-Universität an die Deutsche Verwaltung für das Gesundheitswesen, Quelle: HU, UA, PA-n. 45, Thiele, R.Porträt
1888 | 26. September: Wilhelm Paul Rudolf Thiele wird in Berlin geboren. |
1909 – 1913 | Studium der Philosophie und Naturwissenschaften, 1913 Promotion zum Dr. phil. an der Berliner Universität |
1913 –1919 | Medizinstudium an der Berliner Universität |
1923 – 1929 | 1923 Promotion zum Dr. med., 1926 Habilitation zum Thema: „Zur Kenntnis der psychischen Residuärzustände nach Encephalitis epidemica bei Kindern und Jugendlichen“, 1929 nichtbeamteter außerordentlicher Professor und Lehrauftrag an der Sozialhygienischen Akademie Berlin-Charlottenburg |
1920 – 1933 | Oberarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, u. a. auf der 1921 eröffneten „Kinder-Kranken- und Beobachtungsstation“ |
1933 – 1938 | Arzt an den Wittenauer Heilstätten, ab 1935 dirigierender Arzt an der Heil- und Pflegeanstalt Herzberge, Mitglied des Erbgesundheitsobergerichtes am Kammergericht Berlin, Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund, NS-Dozentenbund, der SA und NSDAP |
1938 | Berufung an die Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald und Ernennung zum Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik |
1939–1945 | Beratender Psychiater des Heeres im Wehrkreis II |
1946 | Im Zuge der Entnazifizierung wird Thiele von der Greifswalder Universität entlassen. Er kehrt nach Berlin zurück, ist an den Kuranstalten Westend tätig. |
1948 – 1957 | Berufung an die Humboldt-Universität zu Berlin, ab 1. Mai 1949 Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie und Direktor der Nervenklinik und Poliklinik, 1956 Emeritierung, bis 1957 kommissarische Weiterleitung der Klinik, sein Nachfolger wird Karl Leonhard |
1960 | Tod von Rudolf Thiele in Berlin/Ost |
Politische Haltung und Aktivitäten im Nationalsozialismus
Thieles Haltung während des Nationalsozialismus ist vielschichtig. Frühe Hinweise auf eine symbiotische Beziehung zu NS-Organisationen zeigen sich bereits 1934, in einem Vortrag über „Angeborenen Schwachsinn“, in dem er Sterilisationsmaßnahmen vehement befürwortete. Er betonte die Notwendigkeit, die Verbreitung von Erbkrankheiten zu verhindern, und sprach sich für eine weite Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen aus. Dabei argumentierte er utilitaristisch, dass solche Maßnahmen dem Wohle der Gesellschaft dienten.
Bereits 1934 forderte er in einem Vortrag die Ausweitung der Sterilisationsmaßnahmen für alle Schwachsinnigen, und schrieb, dass nur eine internationale Erfahrung durch die Erfahrungsmuster der Gerichte sicherstellen könne, dass der rassenhygienische Gedanke umgesetzt werde. Er fungierte als Gutachter bei Zwangssterilisationen und war in den Entscheidungsprozessen der sogenannten „Erbgesundheitsgerichte“ aktiv.
Auch im militärpsychiatrischen Bereich zeigte Thiele Verhaltensweisen, die dem nationalsozialistischen Gedankengut entsprachen. Als beratender Psychiater war er an der Einschätzung von Soldaten beteiligt, bei denen von „Simulation“ oder „hysterischen Reaktionen“ als Ursachen für Wehrkraftzerrüttungen ausgegangen wurde – eine Sichtweise, die die individuelle Würde der Betroffenen verletzte.
Entnazifizierung und Karriere nach 1945
Nach Kriegsende begann für Thiele die schwere Phase der Entnazifizierungsverfahren. Da er in der NS-Zeit intensiv in staatliche und militärische Strukturen eingebunden war, wurde er zunächst aus dem Hochschulamt entfernt und verließ 1946 Greifswald. Dennoch erhielt er im November 1948 die Professur für Psychiatrie und Neurologie an der traditionsreichen Charité der Berliner Universität. Seine Rückkehr symbolisiert die Kontinuität in der deutschen Medizin, trotz seiner Verstrickungen in das nationalsozialistische System.
Seine Rehabilitierung erfolgte mit zahlreichen politischen und wissenschaftlichen Begründungen. Der Rektor der Humboldt-Universität Berlin würdigte ihn als „Wissenschaftler ersten Ranges“, der für die Ausbildung der Medizinstudenten entscheidend sei. Verschiedene Gremien bewerteten Thieles wissenschaftliche Qualifikation hoch und hoben hervor, dass er den Wunsch geäußert habe, die Hochschule nicht zu verlassen, obwohl ihm Möglichkeiten in der Westzone offenstanden. Zudem wurde seine politische Haltung als indifferent bewertet, wobei Zweifel über seine genaue Einstellung im Raum standen.
Bewertung und Reflexion
Thieles Lebensweg ist exemplarisch für die komplizierte Verquickung von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Sein Werdegang verdeutlicht, wie politische Kontinuität und berufliche Kompetenz sich gegenseitig beeinflussen können. In der Nachkriegszeit wurde Thiele nach einer Phase der Entnazifizierung wieder in die wissenschaftliche Gemeinschaft integriert.
Rudolf Thiele ist eine komplexe Figur, deren berufliche Entwicklung von wissenschaftlichen Fähigkeiten, politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Zwängen geprägt war. Seine Biografie zeigt, dass durch Qualifikation, Nähe zum Machtapparat und strategisches Verhalten eine Rückkehr in die akademische und klinische Spitzenposition in der DDR möglich waren.
Auswahl Publikationen
Thiele, Rudolf: Zur Kenntnis der psychischen Residuärzustände nach Encephalitis epidemica bei Kindern und Jugendlichen insbesondere der weiteren Entwicklung dieser Fälle, Berlin 1926 (Abhandlungen aus der Neurologie, Psychiatrie, Psychologie und ihren Grenzgebieten 36).
Thiele, Rudolf: Binaurales Doppelthören (Diplacusis disharmonica): Karl Kleist zum 70. Geburtstag, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 1 (10), 1949, S. 289–295.
Thiele, Rudolf: Karl Bonhoeffer in memoriam, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 43 (3/4), 1949, S. 58–60.
Thiele, Rudolf: Diplacusis heterotopica, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 3 (2), 1951, S. 33–39.
Thiele, Rudolf: Zur somatologischen Fundierung der Psychosen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 3 (11), 1951, S. 322–325.
Thiele, Rudolf: Zur Verwendung der «Jenenser Nomina anatomica» in der klinischen Neurologie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 3 (12), 1951, S. 368–373.
Thiele, Rudolf: Theodor Ziehen zum Gedächtnis, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 4 (2), 1952, S. 59–61.
Thiele, Rudolf: Zum Begriff und zur Pathologie der Drangerscheinungen, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 5 (1/2), 1953, S. 51–59.
Quellen und Literatur
Ziese, Günther: Herrn Professor Dr. med. et phil. Rudolf Thiele zum 65. Geburtstag 29. Juni 1953, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 5 (6), 1953, S. 217.
Müller-Hegemann, Dietfried: In memoriam Rudolf Thiele, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 13 (2), 1961, S. 41–42.
Kumbier, Ekkehardt: Kontinuität im gesellschaftlichen Umbruch – Der Psychiater und Hochschullehrer Rudolf Thiele (1888-1960), in: Helmchen, Hanfried (Hg.): Psychiater und Zeitgeist: zur Geschichte der Psychiatrie in Berlin, Lengerich 2008, S. 319–332.