
Psychiatrie als Nische in der DDR
Der Journalist Günter Gaus prägte 1983 den Ausdruck „Nischengesellschaft“ für die DDR. Gemeint war damit, dass Bürger sich in private oder institutionelle Rückzugsräume begaben, um sich der allgegenwärtigen staatlichen Kontrolle zumindest teilweise zu entziehen. Auch die Psychiatrie konnte zu einem solchen Ort werden, an dem vergleichsweise mehr Freiraum herrschte als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ein neuerer Ansatz versteht „Nischen“ nicht per se als „Schutzräume“, sondern als unterschiedlich konstruierte Beziehung oder „Systemnähe“ zwischen Staat und dem jeweiligen Untersystem, wozu Familien, Vereine oder Institutionen gehören können.
Missbrauch und Kontrolle
Nach der Wiedervereinigung konzentrierte sich die Forschung zunächst stark auf den politischen Missbrauch der Psychiatrie. Nachgewiesen sind Fälle, in denen politisch unliebsame Bürger mit psychiatrischen Diagnosen belegt oder unrechtmäßig eingewiesen wurden. Auch gab es Ärzte und Psychologen, die als inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) Patientengeheimnisse weitergaben. Darüber hinaus stellten Zwangsmaßnahmen, Ausgangsbeschränkungen oder die Nutzung von Diagnosen zu politischen Zwecken gravierende Eingriffe in die Integrität der Patienten dar. Die abgeschiedene Lage vieler Anstalten und das geschlossene Setting der Behandlung erleichterten solche Missbrauchsmöglichkeiten.
Freiräume für Mitarbeitende
Trotz dieser problematischen Aspekte berichten zahlreiche Zeitzeugen von erlebten Freiräumen in der Psychiatrie. Sie galt als Arbeitsumfeld, in dem weniger strenge politische Kontrolle herrschte. Aufgrund des chronischen Personalmangels konnten hier auch Personen arbeiten, die wegen kirchlicher Bindung, liberaler Einstellungen oder „unangepasster“ Biographien in anderen Einrichtungen ausgeschlossen waren. Viele Psychologen, Ärzte oder Pfleger schildern, dass sie nicht gezwungen waren, sich aktiv im Partei- oder Staatssystem zu engagieren, ohne dass dies ihre Karriere entscheidend beeinträchtigte. Damit bot die Psychiatrie für Beschäftigte eine gewisse Autonomie, die in anderen medizinischen Disziplinen kaum möglich war.
Und ich musste auch Gutachten machen von Armeeangehörigen, die während der Armeezeit dekompensiert sind. [… Einer] ist dann aus Angst nach Hause gegangen und nicht wieder zu seiner Armeegruppe und das ist dann als Fahnenflucht deklariert worden und der kam dann aber glücklicherweise in die Nervenklinik und da konnte man dann so jemandem dann auch helfen und eben auch versuchen glaubhaft zu machen, […] dass die Situation für ihn, dass er die verkannt hat oder dass er also nun eine echte Psychose entwickelt hatte.
ZeitzeugeninterviewSchutzräume für Patientinnen und Patienten
Auch Patientinnen und Patienten erlebten die Psychiatrie teils als Schutzraum. Psychiatrische Diagnosen konnten Haftstrafen oder den Einzug zum Wehrdienst verhindern, indem Ärzte entsprechende Gutachten ausstellten. Manche Patienten wurden so vor Gefängnisstrafen, politischer Verfolgung oder militärischen Konsequenzen bewahrt. Gleichzeitig beschreiben Berichte die Klinik auch als Ort der „Beherbergung“: Menschen mit schwierigen psychosozialen Situationen fanden hier zeitweise Zuflucht, wo sie sonst kaum Unterstützung erhielten.
Für einige bedeutete die Psychiatrie Geborgenheit und das Gefühl, nicht allein zu sein. Andere wiederum litten unter Überbelegung, fehlender Privatsphäre und Zwangsmaßnahmen – Erfahrungen, die den Schutzaspekt stark relativierten.
Ambivalenz der Psychiatrie
Die Psychiatrie der DDR war damit ein Ort voller Widersprüche. Einerseits diente sie der Kontrolle, indem Andersdenkende pathologisiert und von der Öffentlichkeit isoliert wurden. Andererseits nutzten Fachkräfte vorhandene Handlungsspielräume, um Patienten vor staatlicher Strafe zu bewahren oder ihnen Freiräume zu ermöglichen. Für Mitarbeiter bot die Institution ein vergleichsweise offenes Arbeitsumfeld, für Patienten in vielen Fällen einen Rückzugsraum im rigiden DDR-Alltag.
Fazit
Die Psychiatrie in der DDR war weder ausschließlich ein Instrument staatlicher Repression noch ein reiner Schutzraum. Sie war beides zugleich: ein „Januskopf“ zwischen Kontrolle und Fürsorge. Unterhalb der direkten Einflussnahme des Staates entstanden Nischen, die subjektiv als Freiräume erlebt wurden – sei es durch Schutz vor Verfolgung, durch weniger strenge politische Vorgaben oder durch persönliche Handlungsspielräume. Diese Freiräume waren stets fragil und an Anpassungsleistungen gekoppelt, ermöglichten aber Mitarbeitenden wie Patientinnen und Patienten, das Leben in der DDR ein Stück weit erträglicher zu gestalten.
Quellen
Windirsch, Antonia; Reis, Olaf; Grabe, Hans Jörgen u. a.: Psychiatrie in der DDR als „Nische“ – Zwischen Anpassung und Freiraum, in: Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 74 (1), 2024, S. 35–42.
Gaus, Günter: Wo Deutschland liegt: Eine Ortsbestimmung. Hamburg: Hoffmann & Campe; 1983.
Weiterführende Literatur
Reis, Olaf: Nischen im Wandel. Zur Transformation von Familien und Generationenbeziehungen in Ostdeutschland, Gießen 2018 (Reihe «Forschung psychosozial»).
Frey, Oliver: Psychiatrie und Gesellschaft am Beispiel der DDR., Magisterarbeit, Institut der Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Berlin 1999.