Patientenrechte und ärztliche Fürsorge in der Psychiatrie –
Debatten in Ost und West

In den 1950er‑ und 1960er‑Jahren dominierte die Frage, wie viel Aufklärung einem psychisch Erkrankten zumutbar ist, ohne ihn zu überfordern oder notwendige Therapie zu gefährden. Juristen und Psychiater erörterten, inwieweit bei mangelnder Einsicht die ärztliche Entscheidung vorrangig sein könne. Während in der BRD juristische Positionen zunehmend die Patientenautonomie betonten, neigten viele ärztliche Stellungnahmen dazu, die Entscheidung über Umfang und Art der Aufklärung dem Arzt zu überlassen. In der DDR wurde diese Tendenz noch stärker mit einem paternalistischen oder fürsorgerischen Verständnis verknüpft, das die Aufklärung dem übergeordneten Heilzweck unterordnete.

Wesentliche Positionen und Argumente

Historische Referenzen wie Albert Moll prägten frühe Debatten: Moll betonte, dass die ärztliche Hauptaufgabe die Sorge für die Gesundheit sei und Aufklärung nur dann Pflicht, wenn sie dem Heilzweck dient. Psychiater wie Walter Ritter von Baeyer und Juristen wie Hans Göppinger (BRD) wiesen darauf hin, dass viele psychisch Kranke durchaus in der Lage sein könnten, über Behandlung zu entscheiden, weshalb differenzierte Aufklärung nicht generell auszuschließen sei. Juristen wie Paul Bockelmann und Manfred Hagedorn hoben die Vorrangstellung des Willens des Patienten hervor und formulierten Kriterien zur Feststellung von Einwilligungsfähigkeit.

In der DDR argumentierten Ärzte wie Hanns Schwarz zwar mit einem prinzipiellen Schutz des Selbstbestimmungsrechts, betonten jedoch zugleich die Pflicht des Arztes, zu prüfen, ob detaillierte Aufklärung dem Patienten schadet (nil nocere). Autoren wie Mahnolf Rossner und Ehrig Lange plädierten offen für eine begrenzte Aufklärung bei psychisch Kranken und sahen die ärztliche Verantwortung als letztverbindlich an; die sozialistische Rechtsauffassung erleichterte nach ihrer Lesart therapeutische Eingriffe auch ohne umfassende Einwilligung, da Heilbehandlung nicht in gleichem Maße als Körperverletzung gewertet werde wie in der BRD.

Titelblatt der Reihe „Medizinisch-juristische Grenzfragen unter besonderer Berücksichtigung der Psychiatrie und Neurologie, herausgegeben von Hanns Schwarz, 1966.

Rechtliche Rahmenbedingungen und Unterschiede in Ost und West

In der BRD führte die stärkere juristische Auseinandersetzung mit Aufklärungspflichten zur Herausbildung des Begriffs des „therapeutischen Privilegs“: Ärztliches Zurückhalten von Informationen war unter Umständen zulässig, wenn die Offenlegung die Gesundheit des Patienten gefährden würde; die Rechtsprechung und die Haftungsrisiken zwangen Ärzte jedoch zu sorgfältiger Dokumentation und Begründung. In der DDR hingegen erlaubte der rechtliche und ideologische Rahmen Ärzten größeren Ermessensspielraum: Heilbehandlung wurde eher als staatlich zu gewährleistende Fürsorge verstanden und weniger strikt mit dem Tatbestand der Körperverletzung verknüpft. Das erleichterte Eingriffe trotz fehlender oder eingeschränkter Einwilligung und förderte ein medizinisch-paternalistisches Vorgehen, das theoretisch durch die sozialistische Ethik der ärztlichen Solidarität legitimiert wurde.

Empirie, Praxis und ethische Reflexion

Empirische Studien zur Aufklärungspraxis fehlten in der DDR weitgehend; retrospektive Berichte und Patientenbefragungen zeigen dagegen ein heterogenes Bild: Manche Patienten berichten über ausreichende Information und Einwilligung, andere über fehlende Aufklärung und erlebte Entmündigung. In der BRD förderten Forschungsarbeiten und rechtliche Diskussionen eine kritischere Reflexion und stärkere Sensibilisierung der Ärzteschaft für Patientenrechte. Ende der 1980er-Jahre gewannen relationale Modelle an Bedeutung (sliding-scale): Die Anforderungen an Einsichtsfähigkeit sollten proportional zum Risiko des Eingriffs sein – ein Kompromiss zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge, der jedoch weiterhin den Bewertungsspielraum des Arztes belässt.

Fazit

Zwischen DDR und BRD bestanden in Theorie und Praxis deutliche Differenzen: In der BRD begünstigten Rechtsbewusstsein, öffentliche Debatte und Gerichtsentscheidungen eine stärkere Betonung der Patientenautonomie; in der DDR dominierten fürsorgerische und kollektive Argumentationsmuster, die dem Heilzweck Vorrang einräumten. Gleichwohl lassen sich keine pauschalen Aussagen über die konkrete Praxis treffen, da empirische Befunde fehlen und Einzelfallberichte divergieren. Entscheidend bleibt, dass beide Systeme – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – versuchten, die ärztliche Verantwortung gegenüber besonders vulnerablen psychiatrischen Patientengruppen zu wahren. Die spätere Entwicklung hin zu differenzierten, relationalen Konzepten der Einwilligungs- und Einsichtsfähigkeit spiegelt den Versuch wider, Selbstbestimmung und Schutz pflichtgemäß in ausgewogener Weise miteinander zu verbinden.

Quellen

Bettin, Hartmut: Die Aufklärungspflicht in der Psychiatrie zwischen Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht. Ethische Positionen in DDR und BRD in den 1960er- bis 1980er-Jahren, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 37–51.

Weiterführende Literatur

Hartmut: Bedeutsam, eigenständig, relevant? Eine vergleichende Analyse der Debatten zur Sterbehilfe in der DDR, in: Medizinhistorisches Journal 54, 2019, S. 31–69

Schwarz, Hanns : Aufklärungspflicht in der Psychiatrie, in: Helmut Kraatz/Hans Szewczyk (Hrsg), Ärztliche Aufklärungspflicht und Schweigepflicht. Bericht über ein Symposium der Klasse für Medizin der Deutschen Akad. d. Wiss., 21. und 22. Januar 1966, Jena 1967, S. 87–92.

Vollmann, Jochen: Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie. Darmstadt 2000.

Seifert, Ulrike: Gesundheit staatlich verordnet : das Arzt-Patienten-Verhältnis im Spiegel sozialistischen Zivilrechtsdenkens in der DDR, Berlin 2009.

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