DDR-Psychiatrie in der Literatur –
Das Beispiel „Flucht in die Wolken“

„Flucht in die Wolken“: Kritik an Klinikalltag und Therapie in der DDR

1981 erschien im Verlag „Der Morgen“ das Buch „Flucht in die Wolken“ von Sibylle Boden‑Gerstner (veröffentlicht unter dem Pseudonym Sibylle Muthesius). Das Werk schildert retrospektiv das Leben und den Suizid der Tochter Sonja Gerstner (im Buch „Pony“) und übte zugleich scharfe Kritik an der psychiatrischen Versorgung in der DDR um 1970. Die Veröffentlichung und ihre Resonanz – mehr als 120.000 verkaufte Exemplare in sechs Auflagen bis 1989 – ebenso wie die vielfältigen fachlichen, medialen und politischen Reaktionen bilden den Ausgangspunkt der Analyse von Müller, Rotzoll und Beyer. Der Beitrag fragt nach dem Aussagegehalt des Buchs für die Zustände in der DDR‑Psychiatrie, nach der Qualität der Kritik und danach, wie sich psychiatrische Missstände in der DDR vs. der BRD darstellen lassen.

Handlung und Intention des Buchs

„Flucht in die Wolken“ erzählt das Schicksal einer hochbegabten, vielseitigen jungen Frau, die nach einer psychischen Krise wiederholt in psychiatrische Kliniken eingeliefert wird und 1971 Suizid begeht. Die Autorin stützt sich auf Tagebücher, Gedichte, Briefe, Zeichnungen und eigene Erinnerungen, um den Leidensweg der Tochter zu rekonstruieren und die Behandlungspraxis der Kliniken zu hinterfragen. Boden‑Gerstner betont, dass ihr Buch kein medizinischer Fallbericht, sondern ein Menschenschicksal sei; zugleich will sie Mitgefühl für psychisch Erkrankte wecken und Angehörigen Mut machen. In der Darstellung gewinnen die Klinikaufenthalte ein dramatisches Gesicht: lange Gänge, karge Aufnahmeräume, „Irrenhausatmosphäre“, invasive somatische Therapien (Elektrokrampftherapie, Insulinkomatherapie), Isolation (Isolierzellen, „Bunker“), fehlende psychotherapeutische Angebote, mangelnde Rehabilitation und ein gestörtes Verhältnis zwischen Ärzten, Pflege und Angehörigen.

Klinische Maßnahmen und subjektive Erfahrungen

Die Schilderungen zu Diagnostik und Behandlung weisen auf eine Vielzahl wechselnder Diagnosen und Therapieversuche: sieben Ärzte, sieben Diagnosen, sieben Therapien innerhalb anderthalb Jahren, so die lakonische Summierung im Text. Elektrokrampftherapie wird als routinierte, kaum hinterfragte Intervention beschrieben; die Mutter schildert deren nachteilige Wirkungen eindrücklich. Die Insulinkomatherapie tritt als weitere invasive Methode hervor. Ebenso problematisch erscheint die Ablehnung psychotherapeutischer Ansätze durch die behandelnden Ärzte, obwohl die Mutter sich explizit mit psychoanalytischer Literatur auseinandersetzt und eine psychotherapeutische Behandlung fordert. Isolationsmaßnahmen bei aggressivem Verhalten und der Umgang des Personals mit Angehörigen werden als kalt, autoritär und wenig empathisch dargestellt. Das Gesamtbild ist das einer Behandlung, in der Somatik dominiert, psychotherapeutische Zugänge marginalisiert sind und die Patientinnen und Patienten wie Objekte therapeutischer Eingriffe behandelt werden.

Die künstlerischen Arbeiten Sonja Gerstners

Die Werke Sonja Gerstners werden von der Mutter biografisch gedeutet und später als bedeutender Nachlass in die Sammlung Prinzhorn übernommen. Die Bilder, Collagen und Tagebuchfragmente eröffnen einen subjektiven Zugang zu den Erlebnissen der jungen Frau; besonders das Isolierzellenbild illustriert unmittelbar die Erfahrung von Einsamkeit und Angst in der Klinik. Zugleich zeigen die farbigen Aquarelle der späteren Phase eine Traum- und Bildwelt, in der Liebe, Hoffnung und Fantasie dominieren — Motive, die Boden‑Gerstner als Gegenentwurf zur klinischen Deutung der Tochter nutzt. Die Übernahme der Arbeiten in die Sammlung Prinzhorn sichert dem Nachlass nicht nur kunsthistorischen, sondern auch psychiatriegeschichtlichen Wert.

Der sich immer besser auswirkenden Öffentlichkeitsarbeit der Psychiatrie auf wissenschaftlich determinierter Grundlage und unter Nutzung der Möglichkeiten unserer sozialistischen Ordnung wird mit laienhaft angelegten tiefenpsychologischen Erörterungen kein guter Dienst erwiesen.

Bodo Barleben, Brief an Dr. Tenzler vom 1.12.1978, Archiv der Autorin S. M., Kopie im Archiv Sächsisches Psychiatriemuseum (Archiv Sächs. PsyMuseum), 1978, Bl. 2.

Gutachterliche und gesundheitspolitische Auseinandersetzung

Die Begutachtung des Manuskripts in der DDR spiegelte fachliche und politische Spannungen wider. Einige Gutachter (u. a. Kurt Höck, Dagobert Müller) lobten die Authentizität des Berichts und sahen in ihm einen Anlass zur offenen Auseinandersetzung mit Problemen der psychiatrischen Versorgung. Andere (vor allem Harro Wendt) warnten vor einer einseitig dramatisierenden, „antipsychiatrischen“ Lesart, die Misstrauen gegenüber Kliniken schüre und gesundheitspolitischen Schaden anrichte. Ministerialerseits wurde die Veröffentlichung kontrovers diskutiert: Abteilungsleiter im Gesundheitsministerium äußerten Bedenken wegen sachlicher Ungenauigkeiten und negativer Öffentlichkeit, während höhere politische Akteure (u. a. Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger, Kulturfunktionär Klaus Höpcke, Kulturminister Hans‑Joachim Hoffmann und Kurt Hager) letztlich die Publikation ermöglichten — teils nach redaktionellen Änderungen und Anonymisierung. Entscheidende Faktoren für das grünes Licht waren persönliche Kontakte der Autorin sowie die Drohung einer vorherigen Westveröffentlichung, die der DDR‑Fassung politischen Nachdruck verlieh.

Rezeption und Wirkung

„Flucht in die Wolken“ wirkte weit über die Einzelschicksale hinaus: Es brachte Fragen nach Klinikalltag, Therapiestandards, Angehörigenkommunikation und Menschenwürde in der Psychiatrie in die Öffentlichkeit der DDR. Obwohl die Fachwelt teils ablehnend reagierte und gesundheitspolitische Bedenken gegen eine breitausgestellte Kritik vorgebracht wurden, offenbarte die starke Leserresonanz ein großes Bedürfnis nach Offenheit und Austausch über psychische Erkrankungen. Das Buch diente vielen Betroffenen und Angehörigen als Identifikationsangebot und als Auslöser für Diskussionen über therapeutische Praxis und die Rolle psychosozialer Behandlungsformen.

Sonja Gerstner, „Ich denke an die Stunden im Bunker. Niemand kam herein, – da hab ich einfach laut gesungen“ [Selbstporträt im Isolierzimmer], 1970, Wasserfarben auf Papier, Quelle: Inv. D 8073/19 (2007), Sammlung Prinzhorn (Universitätsklinikum Heidelberg).

Sonja Gerstner wurde im Dezember 1970 entlassen; am 8. März 1971 nahm sie sich im Alter von 18 Jahren das Leben. 2007 schenkte ihre Mutter der Sammlung Prinzhorn etwa 150 Werke aus ihrem Nachlass als Dauerleihgabe.

Begrenzungen des Effekts in der DDR-Kontext

Gleichwohl traten strukturelle Reformen nicht unmittelbar und flächendeckend ein. Die Möglichkeiten, institutionalkritische Debatten in der DDR politisch zu verstetigen oder in systematische Reformen umzusetzen, waren begrenzt. Fachinterne Reformimpulse (z. B. sozialpsychiatrische Ansätze, Brandenburger Thesen) existierten, gelangten aber nur punktuell zur Umsetzung. Die Fachkritik in der DDR musste sich zudem ideologisch einordnen lassen — sie durfte nicht per se die Staatsordnung in Frage stellen, sondern musste politisch verkürzbar auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen des „Kapitalkomplexes“ gelenkt werden, um als zulässig zu gelten. Vor diesem Hintergrund war der öffentliche Erfolg von Boden‑Gerstners Buch bemerkenswert: Es öffnete Räume für Empathie und thematische Sichtbarkeit, auch wenn institutionelle Wandlungen langsam blieben.

Kulturelles und historiographisches Erbe

Die kurative und zugleich literarische Aufbereitung von Sonja Gerstners Selbstzeugnissen und Bildern sowie deren Aufnahme in die Sammlung Prinzhorn sichern dem Fall nachhaltigen kultur- und psychiatriehistorischen Wert. Die künstlerischen Arbeiten vermitteln subjektive Erfahrungsräume, die klinische Akten allein nicht abbilden. Die Verbindung von persönlicher Biografie, künstlerischem Ausdruck und öffentlicher Debatte macht „Flucht in die Wolken“ zu einem wichtigen Dokument der Psychiatriegeschichte der DDR — als Zeugnis individuellen Leids, als Kritik an Praxis und Haltung in psychiatrischen Einrichtungen und als Anstoß zu einem sensibilisierenden Diskurs.

„Flucht in die Wolken“ ist nicht nur ein literarisch bewegender Bericht über ein tragisches Einzelschicksal ist, sondern auch eine kritische Lupe auf die Psychiatrie der DDR um 1970 darstellte. Das Buch machte sichtbar, wie sehr somatische Behandlungsorientierung, institutionelle Routine, mangelnde psychotherapeutische Angebote und problematische Angehörigenkommunikation das Erleben und die Behandlung psychisch Kranker prägten. Es löste kontroverse fachliche Bewertungen aus, wurde politisch verhandelt und erreichte ein breites Publikum. Seine nachhaltige Bedeutung liegt in der Emanzipation des Themas psychische Krankheit aus dem Tabu‑ und Schweigebereich — ein Beitrag, dessen Nachhall in kulturhistorischen Sammlungen und der fortdauernden Auseinandersetzung mit psychiatrischen Praktiken weiterwirkt.

Quellen und Literatur

Müller, Thomas R.; Rotzoll, Maike; Beyer, Christof: „Flucht in die Wolken“ DDR-Psychiatrie in der Kritik, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 21–36.

https://www.sammlung-prinzhorn.de/sammlung/kuentlerinnen-der-sammlung-prinzhorn/gerstner-sonja (01.09.2025).

Sibylle Boden-Gerstner/Muthesius, Flucht in die Wolken, Berlin 1981.

BArch DR 1/8433.

Höck, Kurt: Gutachten zum Buch von S. C. Muthesius: „Flucht in die Wolken“, 1978, Archiv Sächs. PsyMuseum.

Barleben, Bodo: Brief an Dr. Tenzler vom 1.12.1978, Archiv der Autorin S.M., Kopie im Archiv Sächsisches Psychiatriemuseum (Archiv Sächs. PsyMuseum), 1978.

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