Alkoholabhängigkeit in der DDR

In der DDR gab es keine offizielle Anerkennung von Alkoholismus als Krankheit. Die BRD erkannte die WHO-Definition des Alkoholismus bereits 1968 durch ein Urteil des Bundessozialgerichts an; sie war schon in den 1950er/60er Jahren Mitglied zahlreicher UN-Sonderorganisationen. Der DDR blieb eine frühe WHO-Mitgliedschaft verwehrt. Sie trat erst am 18. September 1973 gemeinsam mit der BRD in die WHO und die UNO ein.

Dem Credo, übermäßiger Alkoholkonsum sei dem Sozialismus wesensfremd, standen realiter die Pro-Kopf-Verbräuche an Alkohol gegenüber, die mit jedem Jahr sozialistischer Gegenwartsgesellschaft massiv anstiegen. Tranken DDR-Bürger pro Kopf 1955 noch 3,9 Liter reinen Alkohol, waren es 1989 10,9 Liter. Der Verbrauch von Spirituosen wuchs in dieser Zeit von 4,4 auf 15,5 Liter.

Ungenügend ist die Betreuung debiler und alkoholabhängiger Bürger. Die Praxis zeigt, daß die Mittel der Gefährdetenverordnung und des Strafrechts ungeeignet sind, diese Bürger umzuerziehen. Es ist eine umfassende medizinische Betreuung erforderlich. Das Gesundheitswesen im Bezirk verfügt jedoch nicht über die erforderlichen Kapazitäten.

Stadtarchiv Rostock 2.1.1.-9711: Rat des Bezirkes Rostock, «Gemeinsamer Bericht des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, des Chefs der BDVP und des Direktors des Bezirksgerichtes über die Durchsetzung der Verantwortung bei der Wiedereingliederung Strafentlassener und Betreuung kriminell gefährdeter Bürger», 16. Oktober 1981, Bl. 6.

Psychiatrische Diagnostik und Stigmatisierung

Diagnosen wie Alkoholismus wurden in der DDR in Sozialversicherungsausweisen codiert. Unter der Ziffer 303 stand Alkoholismus; 1968 wurde das heutige Alkoholabhängigkeitssyndrom noch graduell erfasst, 1975 als psychische und meist auch körperliche Abhängigkeit beschrieben. Der 303‑Eintrag stigmatisierte Betroffene offen, der Datenschutz war unzureichend. Einige Einrichtungen verzichteten deshalb aus ethischen Gründen auf den Eintrag. So suchten viele Menschen auch kirchliche und andere nichtstaatliche Hilfe.

Ab den 1970er Jahren kam es nach leiner angen Zeit der Ignoranz und des Desinteresses zu einer politischen Auseinandersetzung mit Alkoholmissbrauch, insbesondere durch die Aufnahme in das Programm des IX. Parteitages der SED 1976. Obwohl die Akzeptanz als Krankheit schrittweise zunahm, blieb das Thema tabuisiert. Bis Ende der DDR 1990 reflektierte man die WHO-Definition zunehmend, und es entstanden Maßnahmen zur Bekämpfung und Versorgung von Alkoholkranken, jedoch ohne eine klare öffentliche Positionierung.

Probleme und Herausforderungen der betrieblichen Alkoholabhängigenbetreuung

In den DDR-Betrieben verschärfte Alkoholmissbrauch erhebliche Probleme, insbesondere bei Fehlzeiten und Sicherheitsrisiken. Untersuchungen zeigen, dass 60 % der Fehlstunden auf Alkohol zurückzuführen sind, wobei auch disziplinarische Maßnahmen ergriffen wurden. Alkoholkranke Mitarbeiter stellen ein Unfallrisiko dar und beeinträchtigen die Arbeitsleistung. Die betriebliche Suchtkrankenhilfe war kaum etabliert, und Versuche, Mitarbeitende über Strafvollzugsmaßnahmen zu resozialisieren, scheiterten. Kooperationen zwischen Kliniken und Betrieben waren selten, obwohl Schulungen und Diskussionen die Reintegration erleichtern konnten. Insgesamt fehlten in der DDR klare Richtlinien oder bewährte Methoden für den betrieblichen Umgang mit Alkoholabhängigen.

Alkoholbedingte hohe Fehlzeiten, Unfälle und Einschränkungen der Arbeitskraft hatten enorme volkswirtschaftliche Konsequenzen für die DDR. Detaillierte Analysen der Ursachen für unentschuldigtes Fehlen am Arbeitsplatz hatten ergeben, dass 60 bis 80 % auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen war bzw. damit im Zusammenhang stand.

Diese Ausstellungstafeln waren Bestandteil der Kleinausstellung „Der Alkohol-Freund oder Feind?“, die bis ca. 1964 gegen eine entsprechende Leihgebühr im
Deutschen Hygiene-Museum ausgeliehen werden konnte. Empfohlen wurde diese Ausstellung besonders für die Gesundheitswochen, Betriebe sowie Berufs- und Oberschulen.

Jugend und Alkoholismus

Während das ideologische Dogma die Wesensfremdheit von Alkoholabhängigkeit und Kriminalität insbesondere bei jungen „sozialistischen Persönlichkeiten“ betonte, waren praktische Maßnahmen notwendig, um die steigenden gesellschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Die forensische Psychiatrie spielte eine wichtige Brückenfunktion zwischen Medizin, Psychologie und Recht und suchte die Ursachen in familiären, angeborenen oder charakterlichen Faktoren. Alkohol wurde meist nicht als strafverschärfend angesehen, Jugendliche waren hierbei eine Ausnahme. Das medizinische Versorgungssystem betonte kontrollierende, erzieherische Elemente, wobei freiwillige Teilnahmen an Therapien eher die Ausnahme waren. Die Gesellschaft sah Alkoholprobleme vor allem als individuelles, familiäres Problem und propagierte erzieherische Einflussnahmen, während Repression gegen widerständige Jugendliche eingesetzt wurde. Insgesamt nahm die Psychiatrie eine ordnungspolitische Rolle bei der Eindämmung des Alkoholmissbrauchs ein.

Von frühen Initiativen bis zum Dispensaires-System

Einige motivierte Mediziner setzten bereits früh eine „Alkoholpolitik von unten“ um, unabhängig von der offiziellen Richtlinie vom 1. August 1989, die nur kurzfristig wenig Einfluss hatte. Besonders die Psychiatrie war früh maßgeblich am Aufbau spezialisierter Einrichtungen beteiligt. Anfang der 1950er Jahre war das Management alkoholbedingter Fälle minimal, da Alkohol nach dem Krieg zunächst Luxusgut war und keine spezialisierten Fachkräfte vorhanden waren. Die Behandlung begann in psychiatrischen Kliniken, doch mit zunehmendem alkoholbedingten Krankheitsbild und internationalem Austausch wurde Alkoholismus nicht mehr nur als Willensschwäche, sondern als physische sowie psychische Abhängigkeit gesehen. Neue Therapien, wie Gruppentherapie und Langzeitbetreuung, verbesserten die Behandlung. Ambulante Betreuung, meist durch neuropsychiatrische Abteilungen, umfasste Psychodiagnostik, Psychotherapie und Hausbesuche. Ab den 1960er Jahren entstanden in der DDR erste spezialisierte Einrichtungen für Alkoholkranke, bis Ende der DDR 220 therapeutische Gruppen, 50 stationäre und 235 ambulante Stellen existierten. Das Versorgungssystem umfasste ambulante, tagesklinische und stationäre Behandlungen. Zudem wurde ein Dispensaires-System ähnlich wie bei anderen chronischen Erkrankungen eingerichtet, das Beratung, Behandlung und Nachsorge für Suchtkranke bot. Hubertus Windischmann beschreibt das Dispensaire-System anhand seiner Klinik, wobei die Versorgung in der DDR unterschiedliche, oft lückenhafte Lösungen bot.

Behandlung und Therapie

Die Behandlung alkoholabhängiger Patienten folgte WHO-Empfehlungen und umfasste stationäre, ambulante und psychotherapeutische Ansätze, inklusive Medikamenten wie Disulfiram. Durch die Einnahme des Medikaments Disulfiram wird eine starke körperliche Reaktion ausgelöst, die als Abschreckung und negative Verstärkung wirkt. Diese Aversionstherapie, seit den 1950er Jahren im Einsatz, war kontrovers diskutiert worden. Nach ersten positiven Berichten und breiter Anwendung wurde sie aufgrund von Todesfällen, Reaktionen bei fehlender Abstinenz und ethischen Bedenken kritisiert, blieb aber an vielen Kliniken das Mittel der Wahl.

Die DDR vermochte es nicht, überregionale Lösungen in der Suchttherapie anzubieten, sodass sich – wie häufig in der DDR-Psychiatrie – regionale „Insellösungen“ etablierten: Abteilungen an Bezirksnervenkliniken, spezialisierte Dispensaire und landesweit Kliniken, Ambulanzen und Selbsthilfegruppen. Diese Erfolge basierten vor allem auf engagierten Mitarbeitern, waren jedoch regional unterschiedlich ausgeprägt. Das „Rostocker Modell“ war als erste spezialisierte betriebliche Alkoholkrankenbetreuung erfolgreich und zeigte, wie eine medizinische Versorgung unter sozialen und medizinischen Gesichtspunkten umgesetzt werden konnte. Dabei wurde die Alkoholabhängigkeit als medizinisches Problem erkannt, was neue Behandlungsperspektiven eröffnete. Trotzdem war die Versorgung stets von repressiven Elementen geprägt, wobei der Staat Kontrolle und Betreuung miteinander verband. Das System verknüpfte Hilfe mit Bevormundung und spiegelte eine Fürsorgediktatur wider, in der Betroffene sowohl Unterstützung fanden als auch politischen Druck erlebten.

Erst am 1. August 1989 wurde die Richtlinie zur Verhütung und Bekämpfung der Alkoholkrankheit in der DDR eingeführt, die den Aufbau eines landesweiten Betreuungsnetzes anstrebte.

Quellen

Haack, Kathleen; Schrödter, Anton; Grabe, Hans Jörgen u. a.: Vom «wesensfremden Konsum» – Zum Umgang mit der Alkoholproblematik in einem DDR-Großbetrieb., in: Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie 72 (12), 2022, S. 558–563.

Schrödter, Anton; Haack, Kathleen; Grabe, Hans J. u. a.: Die Betreuung und Versorgung alkoholabhängiger Bürger in der DDR am Beispiel Rostocks, in: Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen (Hg.): Psychiatrie in der DDR III. Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2023, S. 353–367.

Schrödter, Anton: Die Erfassung, Betreuung und Versorgung alkoholabhängiger Bürger in der DDR am Beispiel Rostocks im Zeitraum von 1970 bis 1990 mit besonderem Fokus auf den betrieblichen Sektor, Universität Rostock, Rostock 2022.

Stadtarchiv Rostock 2.1.1.-9711: Rat des Bezirkes Rostock, «Gemeinsamer Bericht des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, des Chefs der BDVP und des Direktors des Bezirksgerichtes über die Durchsetzung der Verantwortung bei der Wiedereingliederung Strafentlassener und Betreuung kriminell gefährdeter Bürger», 16. Oktober 1981.

Weiterführende Literatur

Friemert, Klaus; Schmitz, Klaus; Herbst, Alphons u. a.: Behandlung alkoholabhängiger Patienten in Rostock, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 34 (9), 1982, S. 544–553.

Keyserlingk von, Hugo: Die Alkoholkrankheit, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 78 (10), 1984, S. 381–383.

Szewczyk, Hans; Felber, Werner: Der Alkoholiker: Alkoholmissbrauch und Alkoholkriminalität, Jena 1979; Strack, Hans-Ulrich: Rosa Nacht und schwarzes Licht. Leben mit Alkohol: Berichte, Berlin 1989.

Winter, Erik: Alkoholismus im Sozialismus der Deutschen Demokratischen Republik – Versuch eines Rückblicks, in: Keyserlingk von, Hugo; Rogge, Jürgen (Hg.): Berichtsband der Fachtagung gegen Alkohol- und Drogengefahren zum Thema Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch – Rückblick und Vorschau –, o. A. 1990, S. 113–154.

Windischmann, Hubertus: Zur Geschichte der Abstinenzbewegung in der ehemaligen DDR, in: Keyserlingk von, Hugo; Rogge, Jürgen (Hg.): Berichtsband der Fachtagung gegen Alkohol- und Drogengefahren zum Thema Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch – Rückblick und Vorschau –, o. A. 1990, S. 85–98.

Unger, Dieter: Alkoholismus in der DDR : die Geschichte des Umganges mit alkoholkranken Menschen in der ehemaligen DDR im Zeitraum 1949 bis 1989, Halle 2011.

Kochan, Thomas: Blauer Würger: So trank die DDR, Berlin 2011.

Balz, Viola: „Nur eine Cognacbohne“. Alkohol im Spiegel der Gesundheitsfilme des Deutschen Hygienemuseums Dresden, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 243–262.

Balz, Viola: Riskante Selbstverhältnisse: Alkohol im Spiegel des Gesundheitsfilms in der DDR, in: Balz, Viola; Malich, Lisa (Hg.): Psychologie und Kritik: Formen der Psychologisierung nach 1945, Wiesbaden 2020, S. 165–186.

Wahl, Markus: „Ich weiß, daß die Kur sehr hart wird …“ Die Anwendung der Aversionstherapie bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit im Bezirkskrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie in Arnsdorf in der DDR, 1966–1981, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 229–242.

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