
Der Bundesnachrichtendienst
und der politische Missbrauch in der Psychiatrie der DDR
Forschungsergebnisse im Vergleich von Ost und West
Verdacht und Beobachtung
Seit den 1970er-Jahren stand der politische Missbrauch der Psychiatrie international im Fokus – ausgelöst durch die skandalösen Praktiken in der Sowjetunion. Bald fiel auch der Blick auf die DDR: Gab es dort ebenfalls eine „Politpsychiatrie“? In westdeutschen Medien wurde dies wiederholt behauptet.
Tatsächlich zeigen Quellen, dass nicht nur Journalisten, sondern auch der Bundesnachrichtendienst (BND) das Thema intensiv verfolgte. In seinen Akten finden sich Berichte von Flüchtlingen, Klinikpersonal oder Patienten über angebliche Zwangseinweisungen. Interne Einschätzungen des BND verstärkten damals den Eindruck, dass selbst politisch unauffällige, aber „abweichend“ Handelnde in der DDR psychiatrisch erfasst werden könnten. Solche Einschätzungen prägten das westdeutsche Bild von der DDR-Psychiatrie – und spiegeln die damalige Unsicherheit über das tatsächliche Ausmaß wider.
Nach dem Gesamtmeldungsbild kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß es in der DDR Einweisungen in psychiatrische Anstalten gibt, von denen psychisch gesunde Personen mit abweichendem politischem Verhalten betroffen sind.
Einschätzung eines BND-Mitarbeiters, 1977Bilanz der Forschung
Das Forschungsprojekt konnte die BND-Berichte mit DDR-Quellen abgleichen und so Legende und Realität trennen: Ja, es gab Einzelfälle politischen Missbrauchs, die das Vertrauen in die Psychiatrie nachhaltig beschädigten. Nein, eine systematische Psychiatrisierung von Regimegegnern im Stil der Sowjetunion fand in der DDR nicht statt.
Wichtig ist dabei, dass Missbrauch sehr unterschiedlich aussah: von ordnungspolitischen Zwangseinweisungen über geheimdienstlich motivierte Begutachtungen bis hin zu Schweigepflichtverletzungen. Jeder Fall muss in seinem Kontext gesehen werden – politisch, juristisch, aber auch medizinisch. Gerade im Sinn der Opfer ist es notwendig, ihre Erfahrungen ernst zu nehmen und nicht durch pauschale Zuschreibungen zu verwischen.
Zugleich gilt: Auch Gruppen wie psychisch kranke Straftäter erfordern eine sachliche, psychiatrisch fundierte Einordnung. Nur so lässt sich unterscheiden zwischen notwendiger medizinischer Behandlung und politischer Instrumentalisierung. Entscheidend ist, dass die Deutungshoheit hier nicht allein bei medialen Skandalisierungen liegt, sondern bei einer fachlich fundierten historischen Analyse.
Die Rolle der Psychiatrie im politischen System der DDR ist heute verlässlich eingeordnet – nicht als zentrales Repressionsinstrument, aber als Bereich, in dem staatlicher Druck spürbar war und Ärzte in ethische Konflikte geraten konnten.
Quellen und Literatur
Erices, R. (2021). Politischer Missbrauch in der Psychiatrie der DDR: Neue Aktenfunde und Forschungslücken. Psychotherapeut, 66, 1–12.
Weißflog, G., Böhm, M., Klinitzke, G., & Brähler, E. (2010). Erhöhte Ängstlichkeit und Depressivität als Spätfolgen nach politischer Inhaftierung in der DDR. Psychiatrische Praxis, 37(6), 297–299.
Borbe, A. (2010). Die Zahl der Opfer des SED-Regimes. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen.
Süß, S. (1998). Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR. Berlin: Ch. Links.