Polikliniken in der DDR –
Herzstück der ambulanten Versorgung

Von der Nachkriegsnot zum neuen Modell

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die gesundheitliche Lage in der sowjetischen Besatzungszone dramatisch: Seuchen wie Tuberkulose, Ruhr oder Typhus, hohe Säuglingssterblichkeit, Mangelernährung und zerstörte Kliniken bestimmten das Bild. Um eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen, ordnete die sowjetische Militäradministration 1947 den Aufbau von Polikliniken an. Die erste Einrichtung eröffnete bereits 1946 in Schwerin, kurz darauf folgte Gotha.

Das Konzept war neu und zugleich traditionsbewusst: Unter einem Dach sollten ambulante Behandlung, Diagnostik, Prophylaxe und Beratung zusammengeführt werden – kostenfrei, kollektiv organisiert und ohne „private Profitinteressen“. Polikliniken verfügten in der Regel über Röntgenabteilungen, Labore, Apotheken sowie Beratungsstellen. Schon die erste Gothaer Einrichtung richtete Sprechstunden für „Nerven- und Gemütskranke“ sowie Ehe- und Sexualberatung ein – frühe Beispiele für den Versuch, auch psychologische Aspekte in die medizinische Betreuung einzubinden.

Der Aufbau stieß auf große Resonanz. Ein zeitgenössischer Bericht stellte fest: „Der Patient verlässt die Poliklinik nicht nur mit dem Rezept, sondern mit der Arzneiflasche, mit dem Medikament in der Hand.“ Diese Verbindung von Behandlung und direkter Medikamentenversorgung war für viele Menschen ein spürbarer Fortschritt.

Alltag zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Polikliniken galten in der DDR als „höchste Form“ der ambulanten Betreuung. Fachärzte verschiedener Richtungen sollten im Kollektiv arbeiten und Geräte gemeinsam nutzen. Bis 1989 waren rund 90 Prozent aller ambulant tätigen Ärzte in Polikliniken oder Ambulatorien beschäftigt – niedergelassene Praxen waren nur noch selten. Besonders beliebt waren Betriebspolikliniken in großen Industriewerken, die oft als Beleg für den fürsorglichen Charakter des Systems angeführt wurden.

Die Einrichtungen boten Vorteile: kurze Wege, interdisziplinäre Zusammenarbeit und prophylaktische Angebote. In den 1980er-Jahren kamen psychiatrisch-neurologische Abteilungen hinzu, nicht zuletzt wegen der hohen Zahl alkoholkranker Patienten. Zugleich machten diese Beispiele die Schwächen des Systems sichtbar: Personalmangel, lange Wartezeiten, veraltete Technik und überfüllte Räume waren an der Tagesordnung. Auch die psychosoziale Betreuung blieb trotz programmatischer Betonung oft hinter den Ansprüchen zurück.

Transformation und Nachwirkung

Mit der Friedlichen Revolution von 1989/90 stand auch das Polikliniksystem zur Disposition. Viele Ärzte und Patienten warnten vor einem übereilten Abbau, verwiesen auf gewachsene Strukturen und das besondere Vertrauensverhältnis. Dennoch wurden die Einrichtungen bis Mitte der 1990er-Jahre weitgehend in Privatpraxen oder neue Strukturen überführt.

Interessanterweise griff die Bundesrepublik Jahre später mit den Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) ein ähnliches Modell wieder auf. Auch hier arbeiten mehrere Fachärzte angestellt unter einem Dach, Technik und Personal werden geteilt. Zwar sind die Träger heute privatwirtschaftlich organisiert, doch die Grundidee – eine umfassende ambulante Betreuung in gemeinsamer Verantwortung – erinnert deutlich an die DDR-Polikliniken.

So bleiben die Polikliniken ein markantes Symbol für die DDR-Gesundheitspolitik: Ausdruck einer kollektiv gedachten Versorgung, die prophylaktische und psychosoziale Ansätze einschloss – aber in der Mangelwirtschaft des Staatssozialismus ihre Grenzen fand.

Quellen und Literatur

Erices, R. (2023). Polikliniken in der ambulanten Gesundheitsversorgung der DDR. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung.

Kumbier, E., & Haack, K. (Hrsg.). (2023). Psychiatrie in der DDR III: Weitere Beiträge zur Geschichte (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Bd. 28). Berlin: be.bra wissenschaft verlag.

Krumbiegel, H. (2007). Polikliniken in der SBZ/DDR: Konzeption und Umsetzung öffentlicher, poliklinischer Einrichtungen unter besonderer Berücksichtigung Brandenburgs. Frankfurt am Main: VAS – Verlag für Akademische Schriften.

 

Verwandte Artikel und Themen