
Akteur

Dr. med. Irene Blumenthal (1913–2005)
Psychiaterin, Kinder- und Jugenspsychiaterin, Psychotherapeutin
Impulsgeberin für Enttabuisierung und Entstigmatisierung
Irene Blumenthal war eine bedeutende Kinder- und Jugendpsychiaterin in der DDR. Mit der Etablierung von Tageskliniken am Städtischen Krankenhaus Herzberge (ab 1971 Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Berlin-Lichtenberg) für geistig beeinträchtigte Kinder in den 1960er Jahren setzte sie schon frühzeitig wichtige Akzente: Das Konzept wurde Blumenthal durch internationale Impulse bekannt, nachdem auf einem Kongress eine Ärztin aus Spanien darüber berichtet hatte. Die Organisationsform erwies sich als besonders vorteilhaft, da die familiäre Bindung der Kinder erhalten blieb und längere Trennungen vom Elternhaus vermieden wurden. Für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder war dies von großer Bedeutung. Zugleich bot die Tagesklinik auch den Müttern neue Perspektiven: Viele konnten ihre soziale Isolation überwinden und zumindest in Teilzeit wieder berufstätig werden. Die Einführung der Tagesklinik war in der DDR insofern bemerkenswert, als das offizielle gesellschaftliche Selbstverständnis keine kranken oder behinderten Menschen öffentlich sichtbar machen wollte. Geistig behinderte Kinder und ihre Familien blieben weitgehend ausgeblendet. Das Ziel der Tagesklinik bestand hingegen darin, die Kinder zu fördern, sie aktiv in den Alltag einzubeziehen und nicht aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Insofern initiierte Blumenthal neue Entwicklungen und engagierte sich für eine offenere Haltung gegenüber Kindern mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen, insbesondere im Hinblick auf deren gesellschaftliche Enttabuisierung und Entstigmatisierung. Unterstützt wurde sie von Gerda Jun, ebenfalls Ärztin in der Einrichtung und Autorin des in der DDR viel beachteten Buchs „Kinder, die anders sind“. Nach 1990 reflektierte Blumenthal selbstkritisch, dass es in der praktischen Arbeit nicht in dem Maße gelungen sei, die angestrebte menschliche Zuwendung und Aktivierung der Kinder umzusetzen. Häufig wurden die Patienten sediert, zudem erschwerte die unzureichende personelle Ausstattung eine kontinuierliche Förderung. Erst nach der politischen Wende, mit verbesserten Personalschlüsseln, dem Einsatz von Zivildienstleistenden sowie der Gründung der leben lernen Wohnstätten gGmbH, konnten hier deutliche Fortschritte erzielt werden.
Ihr Leben lang setzt sie sich für die Schwachen in der Gesellschaft ein, 40 Jahre lang in der psychiatrischen Einrichtung in Berlin-Lichtenberg, später als Patientensprecherin und bei der Hilfe für Obdachlose.
Die Tagesklinik war das Schönste für uns, für die DDR damals ein Ärgernis! Denn »wir« hatten natürlich keine kranken, behinderten Menschen. Alle waren intelligent, um nicht zu sagen »genial«, wir hatten Leistungssportler, wie Katharina Witt, Wissenschaftler, Künstler – als ob das alltäglich wäre. Mit geistig Behinderten wollte man nichts zu tun haben und schon gar nicht öffentlich. Geistig Behinderte und ihre Familien kamen einfach nicht vor.
Irene Blumenthal, in: Ach, Sie wollen wohl die Idioten in unsere Bahn bringen, was?, S. 119–120.Porträt
1913 | 17. Oktober: Irene Blumenthal wird in Berlin geboren. |
1933 | Abitur |
1933–1946 | Als „Halbjüdin“ darf sie in Deutschland nicht studieren. Sie macht eine Ausbildung zur Fürsorgerin und Erzieherin, arbeitet in Einrichtungen der Diakonie, vorwiegend in Kinderheimen und im Diakonissenhaus Teltow. |
1946–1951 | Studium der Medizin, u. a. bei Theodor Brugsch, der sie beeinflusst; 1951 Promotion zu einem mikroskopisch-anatomischen Thema „Die Milz des Elches“ |
1951–1956 | Assistenzärztin an der Charité in der Inneren Medizin und Chirurgie sowie an der Nervenklinik, 1956 Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie |
1959–1961 | Ärztin am Städtischen Krankenhaus Herzberge (ab 1971 Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Berlin-Lichtenberg). Ab 1961 arbeitet sie aktiv am Aufbau der Kinderpsychiatrie mit. In ihrer Freizeit durchläuft sie eine psychoanalytische Ausbildung in Westberlin, die sie mit dem Bau der Mauer abbrechen muss. |
ab 1962 | Stellvertretende Vorsitzende der Sektion Kinderpsychotherapie unter dem Dach der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR |
1964 | Chefärztin der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik Herzberge |
1977 | Rede auf einer Synode der Evangelischen Kirchen der DDR für die Hinwendung der Diakonie zu Menschen mit Schädigungen und Behinderungen |
1980 | Für besondere Verdienste in der Psychotherapie und Sozialpsychiatrie erhält sie von der GÄP der DDR die John Rittmeister-Medaille. |
1993-2005 | Patientenfürsprecherin am Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) |
2005 | 22. Juli: Tod in Berlin |


Auswahl Publikationen
Blumenthal, Irene: Die Milz des Elches, Diss. med., Humboldt-Universität, Berlin 1951.
Fotopulos, Dimitrios; Blumenthal, Irene: Einseitige Abducenslähmung als initiales Zeichen bei akuter Leukämie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 9 (6), 1957, S. 163–166.
Fotopulos, Dimitrios; Blumenthal, Irene; Schütz, H.: Kasuistischer Beitrag zur Frage der progressiven Bulbärparalyse als Teilsyndrom der ALS, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 10 (9), 1958, S. 260–264.
Quellen und Literatur
Blumenthal, Irene: Ach, Sie wollen wohl die Idioten in unsere Bahn bringen, was?, in: Winkler, Regina (Hg.): Wenn die Magnolie blüht. Arbeitsort Herzberge. Eine Dokumentation, Berlin 20081, S. 118–122.
Jun, Gerda: Eine gemeinsame Wegstrecke mit Irene Blumenthal, in: Bernhardt, Heike; Lockot, Regine (Hg.): Mit ohne Freud: Zur Geschichte der Psychoanalyse in Ostdeutschland, Giessen 2001, S. 241–248.
Israel, Agathe: Entwicklung der (analytischen) Kinderpsychotherapie III – Die 1970er Jahre, in: Geyer, Michael (Hg.): Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995, Göttingen 2011, S. 437–440.
»Dem Geisteslicht zum Schutze…« Die Entwicklung der Psychiatrie von Herzberge, WEB_KEH-Report_Nr_48 Beilage zum KEH-Report 48, KEH, Berlin 06.2018.