
Politischer Missbrauch der Psychiatrie
in der DDR
Internationale Dimension und Ausgangspunkt
Der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion führte seit den 1970er-Jahren zu Spannungen zwischen Fachverbänden in Ost und West. Nach 1989 wurde auch die DDR-Psychiatrie verdächtigt, ähnlich missbraucht worden zu sein. 1990 berichteten westdeutsche Medien – etwa Stern und Bild – über angebliche systematische Psychiatrisierungen, besonders in Waldheim und an der Charité. Daraufhin setzte die DDR-Regierung Untersuchungskommissionen ein. Die Kommissionen fanden drastische Einzelfälle, bestätigten jedoch keinen systematischen Missbrauch während der Honecker-Ära. Kritisiert wurden Schweigepflichtverletzungen, unrechtmäßige Behandlungen und Misshandlungen. Fälle von Scheindiagnosen, wie in der Sowjetunion, wurden nicht nachgewiesen.
Forschungskonsens und Kritik
Die Auswertung von Stasiakten durch Sonja Süß (1998) bestätigte die Ergebnisse: kein systematischer, aber punktueller Missbrauch. Westliche Vorwürfe wurden von Fachvertretern wie Peter Hagemann (1997) als Übertreibung oder Verleumdung zurückgewiesen. Gleichwohl sah die Forschung kritische Praktiken wie Spitzeltätigkeit von Therapeuten, Zwangseinweisungen oder operative Psychologie. Kritiker warfen der Forschung vor, das Ausmaß zu verharmlosen. Andere Stimmen betonten, dass Machtmissbrauch oft auf lokaler Ebene stattfand, übergeordnete Stellen aber eher korrigierend eingriffen.
Kurz vor dem X. Parteitag der SED 1981 wies der MfS-Generalmajor Müller die Gesundheitsdienste im Bezirk Magdeburg an, dafür zu sorgen, dass psychisch Kranke, stationär wie ambulant, keine „Gefahr“ für das politische Großereignis darstellen. Grundlage war der Befehl 10/81 von Minister Erich Mielke, der die Sicherung des Parteitags durch das MfS regelte. Patientinnen und Patienten sollten die Kliniken nicht unkontrolliert verlassen, Ausgang und Urlaub auf das Notwendigste reduziert werden. Auch ambulant betreute Personen konnten während des Aktionszeitraums zwangsweise eingewiesen werden.

Rechtlicher Rahmen und Praxis der Zwangseinweisung
Die Psychiatrie erfüllt in unterschiedlichen Gesellschaftssystemen stets einen doppelten Auftrag: Sie ist einerseits für die Behandlung psychisch Kranker zuständig, übernimmt andererseits aber auch Funktionen im Bereich von Ordnung und Sicherheit. Daraus können Einschränkungen individueller Freiheitsrechte resultieren. Das Gewicht dieser ordnungspolitischen Aufgaben ist kontextabhängig und wird sowohl durch politische Rahmenbedingungen als auch durch das professionelle Handeln der beteiligten Akteure bestimmt. In der DDR schloss das Einweisungsgesetz von 1968 Unterbringungen psychisch Gesunder aus und sah gerichtliche Kontrollen vor. Dennoch waren viele Einweisungen nicht rechtskonform. Politische Motive spielten dabei laut zeitgenössischen DDR-Studien eine untergeordnete Rolle. Einblicke in Archivalien und Zeitzeugenberichte vermitteln ein anderes Bild.
Ordnungspolitische Maßnahmen
Zeitzeugenberichte zeigen, dass psychisch Kranke in der DDR zu politischen Zwecken und insbesondere während Großereignissen (z. B. Weltfestspiele 1973, Staatsbesuche, Leipziger Messe) regelmäßig in Kliniken eingewiesen oder dort festgehalten wurden. Sie ergänzen die Archivquellen und machen nachvollziehbar, wie Anweisungen von der SED über Staatssicherheit, Polizei und Ärzte bis zu lokalen Entscheidungsträgern weitergegeben wurden. Zudem strebte die Stasi eine zentrale Erfassung psychisch Kranker an, einschließlich spezieller Einschätzungen durch Ärzte. Den Klinikmitarbeitenden war bewusst, dass es medizinisch nicht begründete Einweisungen gab. Der Umgang damit variierte: Manche ignorierten die Vorgaben und berichteten von keinen schwerwiegenden Folgen – wenngleich Entscheidungen stets in die klinische Hierarchie eingebettet waren.
Die nicht aus dem Krankheitsverlauf begründete Einweisung war eine Verletzung individueller Rechte. Bereits die Annahme bestimmter Verhaltensweisen psychisch Kranker konnte in der DDR als Grund für Einweisungen oder Ausgangsbeschränkungen dienen, meist ohne tatsächliche Gefahr für die Betroffenen oder andere Bürger. Ziel war es, politisch unerwünschte Teilnahmen an öffentlichen Ereignissen wie Demonstrationen oder Staatsfeiertagen zu verhindern. Ärzte und Klinikpersonal waren dabei in den Missbrauch eingebunden, auch wenn Fachkreise seit den 1970er Jahren auf die missbräuchliche Auslegung des Einweisungsgesetzes hinwiesen und eine sorgfältigere Prüfung forderten. Die nicht tolerierte Anwesenheit von psychisch Kranken und Behinderten bei staatspolitischen Anlässen entlarvt die Machthaber in der DDR als Vertreter einer „Diktatur des abstrakten Sollens – ‚So soll der Mensch sein!’“ (K. Lehmann).
[…] die Polizei hat […] gesagt, also für diese Zeit soll der Patient doch möglichst nicht auffällig sein, sorgt dafür, dass der […] eingewiesen wird. Und da haben die Fürsorger dann oft […] versucht, so ein bisschen was Medizinisches reinzulegen, aber im Grunde war es eben klar, die Patienten sollten […] betreut werden, damit sie nicht draußen rumlaufen.
Aussage eines Akteurs aus dem Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie Eberswalde vom 20.07.2020
Am 13. Dezember 1981 besuchte der Bundeskanzler der BRD, Helmut Schmidt, die kleine Stadt Güstrow im Bezirk
Rostock. Für Staatssicherheit, Volkspolizei und andere Ordnungsorgane stellte dies eine große Herausforderung dar. „Normale“ Bürger sollten nicht auf den Straßen sein. Stasimitarbeiter säumten die Straßen und sprachen von
„Sicherheitsfestspielen“.
Richard D., der an einer affektiven Störung litt, wurde am 10. Dezember 1981 durch eine Betriebskrankenschwester von seinem Arbeitsplatz abgeholt. Beauftragt hatte sie der stellvertretende Oberarzt der Betriebspoliklinik – wie sich später herausstellen sollte ein Inoffizieller Mitarbeiter der
Staatssicherheit. Das Ziel: Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung. Die Krankenschwester berichtete später:
Herr D. ist dann rein und ich habe noch gehört […] wie einige Patienten ,Da kommt der Nächste!‘ grölten […]. Da mir diese Aktion sehr merkwürdig vorkam, fragte ich den Pfleger […]. Er sagte nur, dass es um Güstrow gehe, denn der Helmut Schmidt käme doch. […] Über die ganze Sache habe ich mich mächtig aufgeregt. Deshalb bin ich dann auch zu Dr. [V.] gegangen und habe ihn zur Rede gestellt.
Auszug aus:Psychiatrie und Gesetz, in: Lena Gürtler(Hrsg.): Vergangenheit im Spiegel der Justiz, Bremen 2010, S.86.Paternalismus, Druck und Schutz: Psychiatrische Verantwortung im autoritären Kontext
Wie stark Patientinnen und Patienten tatsächlich unter Druck gesetzt wurden, bleibt unklar. Ob die Nennung möglicher Konsequenzen oder das Hervorheben „medizinischer“ Gründe wirklich zu einer freiwilligen Einweisung oder zum Verbleib in der Klinik führte, lässt sich nicht genau sagen. In der therapeutischen Beziehung birgt eine paternalistische Haltung immer die Gefahr der Bevormundung, sodass die Grenze zum Missbrauch leicht verschwimmt.
Um nachzuvollziehen, warum Menschen in der DDR den Erwartungen des Systems folgten, ist entscheidend, dass Ungehorsam potenziell ernsthafte Folgen haben konnte. Auch wenn Zeitzeugen berichten, dass oft wenig geschah, war dies nicht vorhersehbar: Der Staat konnte massiv in das Leben Einzelner eingreifen. Diese Unsicherheit förderte vorsichtiges Verhalten, das dem Selbst- und Fremdschutz diente.
Das autoritäre System begrenzte individuelle Handlungsmöglichkeiten, ließ aber zugleich situative Spielräume für eigenes Handeln offen. Anders als in der Sowjetunion, wo Psychiatrie gezielt zur Verfolgung politischer Gegner eingesetzt wurde, blieb das Vorgehen in der DDR differenzierter, wenngleich ebenfalls von Einschüchterung geprägt. Drastische Einzelfälle, gekoppelt an den Versuch einer politisch motivierten Psychiatriesierung, gab es dennoch.
Quellen
Erices, Rainer: Politischer Missbrauch in der Psychiatrie der DDR, in: Psychotherapeut 66, 2021, S. 282–287.
Kumbier, Ekkehardt; Lillian Osel; Olaf Reis; Kathleen Haack: Im Schatten der Paraden: Erinnerungen an eine instrumentalisierte DDR-Psychiatrie, in: Nervenarzt, 2025, im Druck.
Lehmann K (2009) Gibt es ein christliches Menschenbild? In: Vossenkuhl W (Hrsg) Ecce homo!: Menschenbild – Menschenbilder. Kohlhammer, Stuttgart, S. 121–139.
Gürtler, Lena: Vergangenheit im Spiegel der Justiz: eine exemplarische Dokumentation der strafrechtlichen Aufarbeitung von DDR-Unrecht in Mecklenburg-Vorpommern, Bremen 2010.
Weiterführende Literatur
Süß, Sonja: Politisch mißbraucht? Psychiatrie und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 19982 (Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) 14).
Süß, Sonja: Psychiater im Dienste des MfS, in: Behnke, Klaus; Fuchs, Jürgen (Hg.): Zersetzung der Seele: Psychologie und Psychiatrie im Dienste der Stasi, 2013, S. 255–283.
Süß, Sonja: Die Rolle der Psychiatrie bei politischer Haft in der DDR, in: Priebe, Stefan; Denis, Doris; Bauer, Michael (Hg.): Eingesperrt und nie mehr frei: psychisches Leiden nach politischer Haft in der DDR, Darmstadt 1996, S. 23–34.
Müller, Sabine; Heinz, Andreas: 10 Menschenrechte in der Psychiatrie, in: Hauth, Iris; Falkai, Peter; Deister, Arno (Hg.): Psyche, Mensch, Gesellschaft, Psychiatrie und Psychotherapie in Deutschland: Forschung, Versorgung, Teilhabe, Berlin 2017, S. 143–154.
Ziesch, Marka, Kommission zur Untersuchung von Mißbrauch der Psychiatrie im Sächsischen Gebiet der Ehemaligen DDR: Abschlußbericht / Kommission zur Untersuchung von Mißbrauch der Psychiatrie im Sächsischen Gebiet der Ehemaligen DDR, Dresden 1996.
Hechler, Daniel; Pasternack, Peer: «… nicht uninteressanter als andere Dinge auch». Zeitgeschichte der ostdeutschen Hochschulen aus der Sicht ihrer Akteure, in: Hechler, Daniel; Pasternack, Peer (Hg.): Ein Vierteljahrhundert später: Zur politischen Geschichte der DDR-Wissenschaft, Bd. 1, Wittenberg 2015, S. 114–131.
Lepsius, Mario Rainer: Institutionalisierung politischen Handelns: Analysen zur DDR, Wiedervereinigung und Europäischen Union, Wiesbaden 2013 (Studien zum Weber-Paradigma).