
Verwahrung, Zwang und Vernachlässigung in der Psychiatrie in der DDR
Missbrauch kann in unterschiedlichen Formen und Praktiken auftreten. Nicht selten ist er an Machtstrukturen gekoppelt, die wiederum bestimmte Interaktions- und Abhängigkeitsverhältnisse nach sich ziehen. Insbesondere in so genannten „totalen Institutionen“ (Erving Goffman), zu denen u. a. psychiatrische Einrichtungen gehören, kann es zu problematischen Potenzialen kommen, die durch Bevormundungen, Einschränkungen, körperliche und mentale Gewalt gekennzeichnet sein können.
Akuter Personalmangel, fehlende Ressourcen, der häufig katastrophale bauliche und technische Zustand psychiatrischer Großkrankenhäuser verschärfte die angespannte Situation in vielen psychiatrischen Einrichtungen der DDR. Durch Gewöhnung, Ignoranz, Nichtwissen kam es zu freiheitsentziehenden Maßnahmen. Netzbetten und Käfige fanden noch bis in die 1980er Jahre Anwendung.

[…] Sie packten mich rechts und links bei den Armen und ich hatte nun überhaupt keine Chance mehr. Und wurde dann von ihnen an meinem Bett fixiert also festgeschnallt! Ich konnte jetzt tun was ich auch wollte aber ich kam einfach nicht mehr los. Am meisten taten mir beide Handgelenke weh wo ich mit je einen [!] Riemen gefesselt war. […]
Bericht eines 15jährigen Jungen über die Behandlung im Bezirksfachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie Schwerin, Quelle: LHAS, SAH Nr. 325.Fehlende rehabilitative Maßnahmen

Wegen fehlender rehabilitativer Möglichkeiten mussten Viele – entgegen der Bestimmungen des Einweisungsgesetzes von 1968 – in psychiatrischen Einrichtungen verbleiben. Die Situation hatte Auswirkungen auf die gesamte Psychiatrie in der DDR. Fehlbelegungen waren an der Tagesordnung, dringend benötigte Aufnahmekapazitäten für psychisch Kranke konnten nur ungenügend umgesetzt werden. Das Urteil westdeutscher Kommissionen, die nach 1989 eine Bestandsaufnahme der psychiatrischen Versorgung in der DDR erarbeitet hatten, war größtenteils vernichtend: Psychiatrie sei „katastrophal und menschenunwürdig“, geprägt von „Großstationen, Überbelegung, mangelnde[r] Tagesstrukturierung“ u. a. m.
1986 entfiel in der DDR jedes fünfte Klinikbett (20 %) auf die Psychiatrie. Besonders in den großen Fachkrankenhäusern blieb die chronische Fehlbelegung ungelöst, wie ein Schreiben Hans Eichhorns zeigt. Rund die Hälfte der Patientinnen und Patienten war länger als zwei Jahre untergebracht, ein Viertel sogar über zehn Jahre. Gleichzeitig herrschte akuter Personalmangel: rund 4730 Pflegekräfte, 350 Nervenärzte und 200 Psychologen fehlten – ein Defizit, das sich durch Abwanderungen in die Bundesrepublik weiter verschärfte.1 Die Folgen waren gravierend: körperliche wie seelische Vernachlässigung der Kranken prägten viele psychiatrische Langzeitbereiche.
Verwahrung
Anstaltspsychiatrie in der DDR bedeutete nicht selten Verwahrpsychiatrie: Insbesondere das nie gelöste Problem der Unterbringung geistig behinderter Menschen außerhalb psychiatrischer Einrichtungen führte zu menschenunwürdigen Lebensbedingungen. Voraussetzungen für ein sinnerfülltes Dasein jenseits des Labels „Langzeitpatient“ konnten häufig nicht realisiert werden. Die von den Verantwortlichen immer wieder angemahnte Schaffung dezentraler Strukturen konnte vielerorts nicht umgesetzt werden. Langeweile, Nichtstun prägten den Verwahralltag. Hinzu kamen die teils extrem beengten Zustände infolge der Überbelegungen.


Und wer dort sozusagen über den Rand kippte, der fiel in dieses unterste Becken. Das waren diese Langzeitbereiche in den psychiatrischen Kliniken, in den psychiatrischen Bezirkskrankenhäusern […] und dort war ja häufig dann der einzige Ausgang der zum Friedhof.
Aussage von 2021 einer Krankenschwester, die in einem großen sächsischen Krankenhaus tätig warVernachlässigung und Zweiklassenpsychiatrie
In derselben psychiatrischen Klinik konnten fortschrittliche Modelle – ambulante Betreuung, multiprofessionelle Dispensaires, territoriale Zuständigkeiten und der Abbau von Klinikbetten durch verbesserte Nachsorge – neben geradezu erschütternden Zuständen existieren. Deutlich zeigte sich dieser Widerspruch etwa in Altscherbitz: Während das Fachkrankenhaus eng in die international beachtete sozialtherapeutische Arbeit der Leipziger Universitätspsychiatrie eingebunden war, lebten Langzeitpatienten, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, gleichzeitig unter desolaten, von Mangel geprägten Bedingungen.
In offiziellen Eingaben (Gesetz über die Bearbeitung der Eingaben der Bürger) – einem der wenigen in der DDR möglichen Wege, Missstände zu benennen – finden sich immer wieder Klagen über den Umgang mit Patientinnen und Patienten in der Psychiatrie. Besonders betroffen waren Kinder und Jugendliche, wie das Beispiel aus Ueckermünde eindrücklich zeigt.

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Quellen
1: Angaben nach Bach, Otto: Entwicklung und Stand der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, in: Ricard, Walter; Reimer, Fritz; AKTION PSYCHISCH KRANKE u. a. (Hg.): Grundlagen und Gestaltungsmöglichkeiten der Versorgung psychisch Kranker und Behinderter in der Bundesrepublik und auf dem Gebiet der ehemaligen DDR: Tagungsbericht: Berlin, 29. 11. – 1. 12. 1990, Köln 1992 (Tagungsberichte / Aktion Psychisch Kranke 19), S. 25–30, hier S. 26.
LHAS, SAH Nr. 325.
HAUEM
Zeitzeugeninterviews 2020-2021
Weiterführende Literatur
Bruns, Florian: Das DDR-Gesundheitswesen aus Patientensicht – Eingaben als medizinihistorische Quelle, in: Historia Hospitalium 31, 2019.2018, S. 355–381.
Bruns, Florian: Kranksein im Sozialismus. Das DDR-Gesundheitswesen aus Patientensicht 1971-1989, Berlin 2022 (Kommunismus und Gesellschaft 12).
Haack, Kathleen: „Im Grunde gibt es … keine Chance zu Veränderungen zu kommen“. Zur Lage der Anstaltspsychiatrie in der DDR in den 1980er-Jahren – Das Beispiel Ueckermünde, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2020, S. 377–392.
Bersch, Falk: Unterbringung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen im Land Mecklenburg und in den DDR-Nordbezirken 1945 bis 1989/90, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte., Berlin 2020, S. 393–415.
Bersch, Falk: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken. Teil 1: Die historische Entwicklung, hg. v. Die Landesbeauftragte für MV für die aufarbeitung der SED-Diktatur, Bd. 1, Schwerin 2020.
Bersch, Falk: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken. Teil 1: Die Historische Entwicklung, Schwerin 2020.
Bersch, Falk: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken. Teil 2: Die Institutionen I – Gesundheitswesen, Schwerin 2022.
Bersch, Falk: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken. Teil 2: Die Institutionen I – Gesundheitswesen, hg. v. Die Landesbeauftragte für MV für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Bd. 2, Schwerin 2022.
Bersch, Falk: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken. Teil 2: Die Institutionen II – Volksbildung/Kirchen, hg. v. Die Landesbeauftragte für MV für die Aufarbeitung der SED-Diktatur, Bd. 3, Schwerin 2024.