Die psychiatrisch-neurologischen
Fachgesellschaften in der DDR

Eigenständige Fachgesellschaften spielen für die Entwicklung einzelner medizinischer Fächer eine wichtige Rolle; so etwa für das Selbstverständnis und die Suche nach der eigenen professionellen Identität. In der SBZ und DDR mussten die Fachgesellschaften ihre Aufgaben im Spannungsfeld von politischen Anforderungen und realen Gegebenheiten wahrnehmen und unterlagen Einschränkungen.

Neubeginn nach 1945 – Fachliche Organisation unter Aufsicht

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden medizinische Fachgesellschaften in der Sowjetischen Besatzungszone aufgelöst. Ab 1946 begann deren Wiederaufbau unter sowjetischer Aufsicht. Der Befehl Nr. 124 von 1947 erlaubte die Neugründung medizinischer Gesellschaften – allerdings unter strenger Kontrolle. Erste regionale Fachgesellschaften für Psychiatrie und Neurologie entstanden in Berlin, Jena, Leipzig und anderen Städten. Eine „politisch unbelastete“ Mitgliedschaft war offiziell gefordert, doch eine echte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit blieb meist aus.

Wissenschaftlicher Austausch trotz Systemgrenzen

Trotz der Systemgrenzen fanden Tagungen statt, teils mit westdeutscher und internationaler Beteiligung. Der wissenschaftliche Austausch blieb möglich, auch wenn ab den 1950er-Jahren staatliche Kontrolle und Genehmigungspflichten zunahmen. 1956 wurde die zentrale „Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie in der DDR“ unter staatlichem Druck gegründet. Sie sollte staatsnah auftreten, den regionalen Gesellschaften aber begrenzten Spielraum lassen.

Zentrale Steuerung und ideologische Ausrichtung

Ab 1969 verschärften sich die staatlichen Eingriffe durch den Koordinierungsrat der medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften. Dieser kontrollierte nun die Inhalte von Tagungen, Vorträgen, Vorstandsbesetzungen und Publikationen. Eine SED-Tagung 1971 in Brandenburg markierte einen ideologischen Wendepunkt. Die Fachzeitschrift „Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie“ wurde fortan stärker gelenkt. Heinz A. F. Schulze – neuer Chefredakteur und später Vorsitzender der Fachgesellschaft – spielte dabei eine zentrale Rolle. Als Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit war er ein Bindeglied zwischen Fachwelt und Staat.

1980 wurde erstmals die Karl-Bonhoeffer-Medaille der Gesellschaft für Psychiatie und Neurolohgie der DDR vergeben; insgesamt 30 mal.

Konfliktfeld:
Einheit oder Trennung der Disziplinen

Im Gegensatz zur Bundesrepublik und der internationalen Entwicklung hielt die DDR an der Einheit von Psychiatrie und Neurologie fest. 1980 wurde die Fachgesellschaft in vier Sektionen (Psychiatrie, Neurologie, Kinderneuropsychiatrie, medizinische Psychologie) gegliedert, um Fachentwicklung und internationale Zusammenarbeit zu fördern – ohne formale Trennung. Ergänzend existierten eigenständige Gesellschaften für Psychotherapie und Klinische Psychologie. Moderne Weiterbildungsprogramme u. a. zur „Therapeutischen Gemeinschaft“ als Behandlungsansatz wurden entwickelt.

Umbruch 1989/90: Gründung der DGPN Ost

Mit der Wende 1989/90 kam es zur Neugründung: Am 9. Juni 1990 entstand die „Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde in der DDR“ (DGPN Ost). Ihr Ziel war die Vorbereitung des Zusammenschlusses mit der westdeutschen DGPN. Regionale Gesellschaften aus Berlin, Dresden, Halle, Leipzig und anderen Regionen beteiligten sich aktiv. Nach intensiven Gesprächen wurde die DGPN Ost am 3. Juli 1991 aufgelöst – viele Mitglieder waren inzwischen in die gesamtdeutsche DGPN übergetreten.

Kontinuität in den Regionen

Trotz der Auflösung der zentralen Fachgesellschaft bestehen viele Regionalgesellschaften bis heute. Sie tragen weiterhin zur fachlichen Identität und zum wissenschaftlichen Austausch bei. Ihre Geschichte ist bislang nur punktuell erforscht und bleibt ein bedeutendes Kapitel in der deutschen Medizin- und Fachgeschichte.

Quellen und Literatur

Kumbier, Ekkehardt: Schwieriger Neuanfang. Die Gründung der Fachgesellschaften für Psychiatrie und Neurologie in der DDR zwischen Autonomiebestrebung und staatlicher Ideologie, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2020, S. 137–158.

Weiterführende Literatur

Guntau, Martin; Laitko, Hubert: Der Ursprung der modernen Wissenschaften. Studien zur Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, Berlin 1987.

Kumbier, Ekkehardt: Schwieriger Neuanfang. Die Gründung der Fachgesellschaften für Psychiatrie und Neurologie in der DDR zwischen Autonomiebestrebung und staatlicher Ideologie, in: Kumbier, Ekkehardt (Hg.): Psychiatrie in der DDR II Weitere Beiträge zur Geschichte, Berlin 2020, S. 137–158.

Rohland, Lothar; Spaar, Horst: Die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR: Geschichte, Funktion und Aufgaben, Berlin 1973.

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