
Akteur

Prof. Dr. med. Klaus Weise (1929–2019)
Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Leipzig
Praxisverbundener Hochschullehrer für Psychiatrie
Klaus Weise gilt als zentrale Persönlichkeit für die Etablierung einer auf Humanität gegründeten Sozialpsychiatrie in der DDR. Wissenschaftlich orientierte er sich an der phänomenologischen und anthropologischen Psychiatrie sowie der Daseinsanalyse – ein Ansatz, der teils im Widerspruch zur staatlich geforderten naturwissenschaftlichen Orientierung stand. Gemeinsam mit dem marxistischen Philosophen Achim Thom formulierte Weise die Idee einer „Sozialpsychiatrie in der sozialistischen Gesellschaft“.
Weise und Thom hatten die Psychiatrie als Institution mit „antihumaner Einstellung zum psychisch Kranken“ und einseitig biologischem Krankheitsmodell diagnostiziert, das zur „Ausgrenzung, Asylierung und Diskriminierung“ beigetragen habe. Sozialpsychiatrie erschien ihnen als „dritte Revolution“ nach biologischer und psychodynamischer Erkenntnis, notwendig zur Überwindung inhumaner Zustände. Ihre Theorie verband das westdeutsche Reformmodell mit dem marxistischen Ansatz des historischen Materialismus. Der Mensch galt zugleich als biologisch bestimmt und gesellschaftlich geprägt – Objekt sozialer Bedingungen und Subjekt ihrer Gestaltung. Psychische Erkrankungen verstanden sie als Ausdruck gestörter Umweltbeziehungen, die ein selbstbestimmtes Leben verhindern. Psychiatrie sollte medizinische Disziplin bleiben, zugleich aber als gesellschaftlich eingebettete Wissenschaft neu begründet werden. Aus der Kritik an der „bürgerlich-kapitalistischen Psychiatrie“ folgte die Forderung nach einer demokratischen, gemeinschaftsorientierten Psychiatrie im „menschlichen Sozialismus“.
Weise erkannte früh die therapeutische Bedeutung von Kommunikation. Bereits Mitte der 1970er-Jahre machte er Leipzig zu einem Zentrum der Gesprächspsychotherapie – lange bevor diese Methode breite wissenschaftliche Anerkennung fand. Sein Ziel war es, Psychotherapie als integralen Bestandteil psychiatrischer Arbeit zu etablieren. Ein Meilenstein war 1980 die offizielle Anerkennung der Psychotherapie als Facharztrichtung in der DDR, für die er sich maßgeblich eingesetzt hatte.
Ich meine, daß der Begriff Sozialpsychiatrie ein Symbol dieser einseitig disziplinären und damit desintegrativen Tendenzen ist, Ausdruck einer problematischen Beziehung naturwissenschaftlicher und sozial orientierter Psychiatrie. Der gegenwärtige Stand der Entwicklung beider Richtungen erfordert aber eine neue Phase, die Überwindung disziplinärer Denkhorizonte, des Trends der Spezialisierung durch Integration.
Klaus Weise: Sinn und Unsinn des Begriffs Sozialpsychiatrie, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 38 (12), 1986, S. 689–693, hier S. 691.Porträt
1929 | 1. März: Klaus Weise wird in Freiburg/Breisgau geboren. |
1931 | Umzug nach Leipzig nach dem Tod des Vaters |
1947–1953 | Medizinstudium in Leipzig, 1953 Promotion zum Thema: „Untersuchungen über den Stofftransport im gefäßlosen Wirbeltierherzen“ und Approbation |
1953–1957 | Pflichtassistent an Universitätskliniken in Leipzig, später Assistenzarzt an der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig unter Dietfried Müller-Hegemann, u. a. in der neu gegründeten Psychotherapieabteilung |
1957–1958 | Oberarzt im vogtländischen Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch unter Rolf Walther, Begegnung mit Karl-Peter Kisker. Dessen philosophisch-anthropologisches Verständnis vom kranken Menschen, das eine nicht wertende und nondirektive Beziehung ermöglicht, war für Weise von grundlegender Bedeutung. |
1958 | Facharzt für Neurologie und Psychiatrie |
1958–1971 | wissenschaftlicher Assistent, von 1961–1971 Oberarzt der Psychiatrischen Abteilung der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig (ab 1968 Klinik für Psychiatrie), 1964 Eintritt in die SED |
1969 | Habilitation zum Thema „Grenzen und Möglichkeiten der Psychopathologie: Dargestellt am Beispiel schizophrener und schizophrenieähnlicher Erkrankungen“ |
1971 | Dozentur für Psychiatrie und Neurologie und Erster Oberarzt der Klinik, Übernahme der Leitung des vom Ministeriums für Gesundheitswesens geförderten Forschungsprojekts „Psychonervale Störungen“, dadurch Schwerpunktverlagerung auf sozialpsychiatrische Themen |
1980 | Facharzt für Psychotherapie |
1974–1990 (1995) | ordentlicher Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Direktor der seit 1968 verselbstständigten Psychiatrischen Universitätsklinik, nch der politischen Wende bleibt Weise Klinikdirektor. Eine Berufung neuen Rechts wurde dem ehemaligen SED-Mitglied wegen Systemnähe verwehrt. |
1990 | Verleihung der Karl-Bonhoeffer-Medaille in Anerkennung hervorragender wissenschaftlicher Leistungen auf dem Fachgebiet Psychiatrie und Neurologie |
1995 | Ruhestand |
1995–2019 | weitere Tätigkeit in Fachgesellschaften, in der Sächsischen Ärztekammer, als Vorstandsmitglied des 1989 gegründeten Leipziger Psychiatrie-Betroffenen-Vereins Durchblick e. V. |
2019 | 14. Mai: Tod von Klaus Weise in Leipzig |
Praktisches Wirken


Klaus Weise setzte früh auf offene Stationen, multiprofessionelle Teams, Bezugstherapiesysteme und Gruppenpsychotherapie – auch für schwer psychisch Erkrankte. Mit Bernhard Schwarz entwickelte er eine mehrdimensionale Diagnostik und förderte therapeutische Gemeinschaftsmodelle.
Als Mitbegründer der psychiatrischen Pflichtversorgung in Leipzig etablierte er sektorisierte Versorgungskonzepte. Die von Carl Rogers beeinflusste personzentrierte Gesprächspsychotherapie wurde zentraler Bestandteil seines Behandlungsansatzes. Nach 1990 bestätigte eine Mitarbeiterabstimmung seinen Verbleib als Klinikdirektor bis 1995. Trotz Systemnähe verweigerte man ihm später eine Neuberufung. Weise blieb bis ins hohe Alter klinisch aktiv und der psychiatrischen Praxis kritisch verbunden. Er engagierte sich im Selbsthilfeverein „Durchblick e. V.“ und trat bis zuletzt für eine Psychiatrie ein, die den Menschen als Subjekt ernst nimmt. Für viele galt er als Reformpsychiater, empathischer Arzt und bescheidener Lehrer, dem Hierarchie fernlag. Seine Patienten und Kollegen erinnern sich mit großer Wertschätzung an ihn.
Im 1971 gemeinsam mit Bernhard Schwarz und Achim Thom herausgegebenen Buch „Sozialpsychiatrie in der sozialistischen Gesellschaft“ legten die Autoren eine marxistisch fundierte Theorie der Sozialpsychiatrie vor. Das Werk fand über die DDR hinaus Beachtung und wurde auch in der Bundesrepublik Deutschland rezipiert – als bemerkenswerter Beitrag zur sozialpsychiatrischen Debatte jener Zeit.
Auswahl Publikationen
Weise, Klaus: Zur Wirksamkeit psychiatrischer Abteilungen am Allgemeinkrankenhaus, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 38 (11), 1986, S. 634–640.
Schwarz, B.; Weise, K.: Modell der Sektorisierung als Grundlage der langfristigen Betreuung psychisch Kranker, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Beiheft 24, 1979, S. 25–28.
Schwarz, Bernhard; Weise, Klaus; Thom, Achim (Hg.): Sozialpsychiatrie in der sozialistischen Gesellschaft, Leipzig 1971.
Thom, Achim; Weise, Klaus: Medizin und Weltanschauung, Leipzig u. a. 19731 (Wissenschaft und Weltbild).
Weise, Hannelore; Weise, Klaus: Möglichkeiten der Gesprächspsychotherapie in der Versorgung psychisch Kranker, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 33 (11), 1981, S. 674–680.
Weise, Klaus: Die «Rolle» des Kranken und die Bedeutung des sozialen Aspektes für die medizinische Rehabilitation, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 20 (6), 1974, S. 379–381.
Weise, Klaus: Moderne Fragen der Sozialpsychiatrie, in: Die Heilberufe. Zeitschrift für mittlere medizinische Fachkräfte 26 (6), 1974, S. 173–175; Weise, Klaus: Psychiatrie und Gesellschaft, in: Deine Gesundheit 6, 1981, S. 164–166.
Weise, Klaus: Zur Lage der Psychiatrie in Ostdeutschalnd, in: Müller, Hans-Werner (Hg.): Zur psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland Ost und West 1992, s. l. 1992 (Schriftenreihe), S. 41–48.
Weise, Klaus: Psychiatrische Erfahrungen in zwei Systemen, in: Urbahn, Theiß (Hg.): Gute Psychiatrie in schlechten Zeiten?: Aussichten der Psychiatriereform im Spannungsfeld von Fachlichkeit, Ethik und ökonomischen Interessen, Gütersloh 1999, S. 51–61.
Quellen und Literatur
https://research.uni-leipzig.de/agintern/CPL/PDF/Weise_Klaus.pdf (28.07.2025)
Buttler, Johann; Steinberg, Holger: Sozialpsychiatrische Konzepte in der BRD und der DDR – Ein Vergleich der theoretischen Ansätze von Karl Peter Kisker sowie Klaus Weise und Achim Thom, in: Psychiatrische Praxis 51 (06), 2024, S. 328–334.
Steinberg, Holger; Uhle, Matthias: Nachruf auf Professor Dr. med. Klaus Weise (1929-2019), in: Der Nervenarzt 91 (3), 03.2020, S. 268–270.
Uhle, Matthias: Prof. Dr. med. habil. Klaus Weise zum 75. Geburtstag, in: Ärzteblatt Sachse 3, 2004, S. 103.
Weise, Klaus: Leipziger Psychiatriereform 1960 bis 1990, in: Symptom. Leipziger Beiträge zu Psychiatrie und Verrücktheit, 2014, S. 51.
Bach: Prof. Dr. med. habil. Klaus Weise zum 80. Geburtstag.
Weise, Klaus; Uhle, Matthias: Psychiatry in the (Former) German Democratic Republic, in: International Journal of Mental Health 20 (4), 01.12.1991, S. 47–65.