Akteur

Dr. med. habil. Rolf Walther (1919–1988)

Psychiater und Reformer

Psychiater und Reformer

Rolf Walther gehört zu den wichtigsten Sozialpsychiatern in der DDR. Er war einer der wichtigsten Protagonisten der Rodewischer Thesen. Mit der Übernahme des ärztlichen Direktorats durch Walther 1955 begann die Wandlung der Rodewischer Einrichtung von einer vornehmlich der Pflege und Verwahrung von Geisteskranken dienenden Anstalt in ein modernes Fachkrankenhaus. Er führte die „komplexe psychiatrischen Therapie“ ein, die er als Rehabilitationsbehandlung versteht und die sowohl eine medikamentöse wie auch die Arbeitstherapie und gruppentherapeutische Behandlung umfasste.

Wir haben nicht nur die Mauern abgerissen, welche die alten Anstalten zu unzugänglichen Inseln und den psychisch Kranken zum Ausgestoßenen der Gesellschaft gemacht haben. Es geht uns dabei nicht nur um die Paria-Stellung dieser psychisch Kranken, nicht nur um eine menschenwürdige Unterbringung […], sondern auch um die Einbeziehung der Umwelt und Mitwelt des Kranken in unser Therapieprogramm.

Rolf Walther: Psychiatrische Rehabilitation, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Beiheft (4/5), 1966, S. 244–251, hier S. 246.

Porträt

191913. November: Rolf Walther wird in Leipzig geboren.
1939–1945Studium der Medizin in Leipzig, 1944 Staatsexamen, 1945 Promotion zum Thema: „Unspezifische mykotische Arteriitis und Arrosionsblutung“ an der Universität Leipzig
1945–1955Assistenzarzt, später Oberarzt an der Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Uchtspringe
1955–1973Ärztlicher Direktor der Krankenanstalten Rodewisch, ab 1956 Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch, Profilierung der Klinik, Öffnung der Stationen unter Anwendung von Psychopharmakatherapien, Differenzierung einzelner Stationen, Einführung des open-door-Systems, Eröffnung einer Poliklinik für Nachsorge sowie eine neurologische Fachabteilung.
1961–1963In Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Rehabilitation (Karlheinz Renker), den Psychiatern Liese-Lotte Eichler (Brandenburg), Ehrig Lange (Dresden) sowie den Gesundheitspolitikern Kurt Winter, Gerhard Misgeld und Alexander Mette bereitet Walther das Internationale Symposium zur Rehabilitation in Rodewisch vor. Daraus entstehen die Rodewischer Thesen.
Mitgliedschaften:
– SED
– Rat für Planung und Koordinierung der medizinischen Wissenschaft des Ministeriums für Gesundheitswesen
1970Habilitation an der Technischen Universität Dresden zum Thema „Die komplexe Therapie als Voraussetzung der rehabilitativen Wiedereingliederung von Defektbildung bedrohter schizophrener Menschen: Ergebnisse katamnestischer Erhebungen 7 Jahre nach der Krankenhausentlassung“
1973Wechsel nach Limbach-Oberfrohna, hier etabliert Walther eine psychotherapeutische Klinik, die er bis 1979 leitet.
198819. Februar: Tod Rolf Walthers in Waltershausen/Thüringen

Vertrauen zurückgewinnen: Reformen und Herausforderungen der Landesheilanstalten im Schatten des Nationalsozialismus

Schon 1949 mahnte Walther an, dass das Vertrauen in die Psychiatrie nach den Morden an psychisch Kranken während der Zeit des Nationalsozialismus nur durch beharrliche, seriöse Arbeit der ärztlichen, pflegerischen und administrativen Mitarbeiter zu erreichen sei, nicht durch Propaganda. Um wieder kompetente, motivierte Ärzte zu gewinnen, forderte Walther 1949 konkrete Maßnahmen: leistungsorientierte Karrierewege, mehr Oberarztstellen, zeitlich befristete Abordnungen an Universitätskliniken zur Weiterbildung sowie kurze Fortbildungskurse für Universitätsassistenten in relevanten Fächern. Zur Stärkung der wissenschaftlichen Arbeit sollten regelmäßige interne Tagungen, bessere finanzielle Ausstattung für Bibliotheken, Labore und Röntgentechnik sowie die Förderung wissenschaftlicher Aktivitäten eingeführt werden. Ebenso wurde die Angleichung und Verbesserung der Pflegeausbildung gefordert: qualitativ vergleichbar mit der Ausbildung in Allgemeinkrankenhäusern plus spezifischer Weiterbildung für Psychiatrie mit bundesweit anerkanntem Prüfungsabschluss. Austauschprogramme für Auszubildende sollten Personalmängel abfedern. Ähnlich wie Hermann Nobbe mahnte Walther an, die Landesheilanstalten bei Verteilung von Ressourcen gleichzustellen und sich von überkommenen, diskriminierenden Verwaltungsgewohnheiten zu lösen. Nur durch umfassende Qualifizierung von Ärzten und Pflegepersonal, bessere Ausstattung und kontinuierliche wissenschaftliche Arbeit könnten die Heilanstalten ihre klinischen Aufgaben erfüllen und verlorenes Vertrauen zurückgewinnen.

Außenfürsorge nach 1945: Wiederaufnahme und Aufgaben der psychiatrischen Nachsorge

In Walthers Zeit in Uchtspringe wird sein Bemühen deutlich, Verbessserungen für psychisch Kranke zu etablieren. Die „Außenfürsorge“ (Nachgehende Fürsorge) als wichtiges Instrument der Psychiatrie des augehnden 19. und frühen 20. Jahrhunderts bringt Walther wieder ins Spiel. Sie ermögliche frühere Entlassungen, weil das häusliche Umfeld untersucht, überwacht und bei Bedarf regulierend eingegriffen könne und eine fortlaufende fachärztliche Kontrolle sei garantiert. Der Krieg habe diese Arbeit weitgehend einschlafen lassen; ab 1950 wurde sie schrittweise wieder aufgenommen. Walther forderte: Die Anstalten sollten eigene Anstaltsfürsorgekräfte einstellen, die eng mit den Fürsorgerinnen der Gesundheitsämter zusammenarbeiten; die Zahl der Fürsorgerinnen müsse erhöht werden, sodass jeweils eine Kraft ausschließlich für psychiatrische Nachsorge zuständig ist. Organisatorische Kooperation mit Behörden, ausreichende Finanzierung und Personalstärkung seien unerlässlich, da die soziale Wiedereingliederung ehemals stationär behandelter Patientinnen und Patienten eine dringende gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, bei der Kostenüberlegungen untergeordnet werden müssten.

Walthers Plädoyer einer psychiatrischen Rehabilitation im Vorfeld von Rodewisch

Bereits 1962, ein Jahr vor dem Rodewischer Symposium, formulierte Walther, dass psychiatrische Rehabilitation mehr als Therapie sei: Rehabilitation verlange eine menschliche, ganzheitliche Haltung der Behandler, frühzeitige Einbindung von Umfeld und Arbeitswelt, solide organisatorische Strukturen und ausreichende Ressourcen, damit ehemals schwer psychisch Erkrankte wieder ein sinnvolles Leben führen können. In seinem Aufsatz „Gedanken zur Rehabilitation in der Psychiatrie“ forderte er:

  • den Wandel der Anstaltsfunktion: Psychiatrische Heilanstalten sollten sich von Verwahrstätten zu spezialisierten Behandlungszentren entwickeln. Ziel sei nicht nur Heilung, sondern systematische medizinische Rehabilitation und soziale Wiedereingliederung.
  • die Rehabilitation als integraler Prozess: Rehabilitative Maßnahmen würden stationär mit gezielter Behandlung beginnen und setzten sich in sozialen, beruflichen und familiären Bereichen fort. Medizinische Rehabilitation (spezialisierte stationäre Therapie) bilde das Rückgrat, doch allein therapeutische Maßnahmen würden nicht ausreichen.
  • dass Haltung und Umgang entscheidend seien: Der Erfolg hinge maßgeblich von der ärztlichen und pflegerischen Haltung ab: Respekt, Kontinuität, Vertrauensaufbau und eine auf den Menschen, nicht auf den „Fall“ gerichtete Behandlung wären zentral. Routine und therapeutischer Pessimismus schadeten der Rehabilitation.
  • Probleme bei der Einweisung und Aufnahme zu reduzieren: Zwangs- oder getäuschte Einweisungen schädigten Vertrauen und therapeutische Beziehung nachhaltig. Vorbehalte der Angehörigen, Fehleinschätzungen und Vorverurteilungen («Dauerverwahrung») würden die spätere Wiedereingliederung erschweren.
  • die Bedeutung von Umfeldarbeit und Milieutherapie zu berücksichtigen: Frühe Einbindung von Angehörigen, pädagogische Arbeit, Gestaltung des Stationsalltags (Milieutherapie) und sorgsamer erster Kontakt bei Aufnahme wirkten therapeutisch. Kleine Alltagsdetails (Visiten, Mahlzeiten, Aufenthaltsräume) tragen zur „Heilatmosphäre“ bei.
  • Nachsorge und soziale Vorbereitung: Kontakte zu Familie, Betrieb und sozialen Stellen sollten bereits während des Aufenthalts aufgebaut werden (Information, Arbeitsplatzprüfung, Besuch der Betriebsärzte). Epikrise, Sprechstunden und Fürsorgearbeit sind wichtig für nahtlose Übergänge.
  • Struktur- und Personalfragen zu lösen: Viele Kliniken würden nicht über ausreichende Ressourcen für optimale Rehabilitation (Bettenknappheit, Personalmangel, fehlende Heimplätze) verfügen. Es fehle oft an Zeit und Personal für umfassende Entlassungsplanung und berufliche Wiedereingliederung.
  • ein Plädoyer gegen Schematismus: Rehabilitation muss individuell, interdisziplinär und längerfristig angelegt sein. Mechanistische oder routinemäßige Behandlung verfehle die Bedürfnisse des Patienten.
  • institutionelle Unterstützung: Für wirkliche Rehabilitation bedürfe es besserer Ausstattung, kontinuierlicher Fortbildung, enger Kooperation mit Sozialbehörden und Arbeitgebern sowie eines mentalitäts- und qualitätsorientierten Personalschlüssels.
Professor Prokup aus Prag, hier mit Rolf Walter, bei der „Prüfung“ der Handarbeiten von Patientinnen der Psychiatrie aus Rodewisch, Quelle: Historisches Archiv des Sächsischen Krankenhauses Rodewisch.

Auswahl Publikationen

Walther, Rolf: Behandlung statt Zwang, in: Deine Gesundheit 2, 1964, S. 56–58.

Walther, Rolf: Möglichkeiten und Probleme der Rehabilitation chronisch schizophrener Patienten, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 55 (1), 1961, S. 34–36.

Walther, Rolf: Bedingungen der Rehabilitation bei chronisch psychotischen Menschen, in: Das Deutsche Gesundheitswesen 20, 1965, S. 581–585.

Walther, Rolf: Psychiatrische Rehabilitation, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Beiheft (4/5), 1966, S. 244–251.

Walther, Rolf: Die komplexe Therapie als Voraussetzung der rehabilitativen Wiedereingliederung von Defektbildung bedrohter schizophrener Menschen: Ergebnisse katamnestischer Erhebungen 7 Jahre nach der Krankenhausentlassung, Habilitationsschrift (Promotion B), Technische Universität Dresden, Dresden 1970.

Walther, Rolf: Grundzüge der modernen psychiatrischen Therapie, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 55 (2), 1961, S. 76–79.

Walther, Rolf: Beitrag zur modernen psychiatrischen Therapie unter besonderer Berücksichtigung der hochdosierten Reserpin-Behandlung, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 16 (8), 1964, S. 293–299;.

Walther, Rolf: Moderne klinische psychiatrische Therapie und praktischer Arzt, in: Zeitschrift für ärztliche Fortbildung 61, 1967, S. 32–35.

Walther, Rolf: Die Malereien von psychisch Kranken, in: Institut für Weiterbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte (Hg.): Zweiter Weiterbildungslehrgang für Arbeitstherapeuten in der Psychiatrie: vom 14. bis 17. Februar 1966 in Brandenburg-Görden; 5 Vorträge, Potsdam 19671, S. 31–37.

Walther, Rolf: Das manische Syndrom als Deviation des Antriebs, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 25 (2), 1973, S. 74–80.

Walther, Rolf: Deviationen psychischer Grundeigenschaften – das depressive Syndrom, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 26 (2), 1974, S. 70–77.

Quellen und Literatur

Rank, Maria; Eisenschmidt, Kerstin: Die Geschichte der gelben Häuser. 125 Jahre Sächsisches Krankenhaus Rodewisch, Rodewisch 2018.

BArch, MfS HA XX Nr. 7212, Teil 3.

Historisches Archiv Sächsisches Krankenhaus Rodewisch.

Renker, Karlheinz: Rodewischer Thesen. Internationales Symposium über psychiatrische Rehabilitation vom 23.–25.5.1963 in Rodewisch (Vogtl.), in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 11, 1965, S. 61–65.

Walther, Rolf: Psychiatrische Rehabilitation, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie. Beiheft (4/5), 1966, S. 244–251.

Walther, Rolf: Nicht Schuld – sondern Krankheit, in: Deine Gesundheit 9, 1963, S. 266–267.

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