Im Vorfeld von Rodewisch

Die Rodewischer Thesen, formuliert 1963 im Vogtland, markieren einen Meilenstein in der Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in der DDR. Sie forderten frühzeitig eine Öffnung der Psychiatrie sowie den Ausbau ambulanter Strukturen und plädierten für die Integration von Rehabilitationskonzepten in die krankenhausorientierte Behandlung – insbesondere bei chronisch Kranken. Der Weg nach Rodewisch war ein steiniger.

Hintergründe der Thesen:
Neue Ansätze in der DDR-Psychiatrie

Forschungen zu den Rodewischer Thesen konzentrierten sich lange auf die Entwicklung der Thesen. Dabei wurde vermutet, dass westliche sozialpsychiatrische Strömungen übernommen oder die DDR-Psychiater sich an internationalen Trends orientiert hätten. Diese Erklärungsansätze vernachlässigten jedoch eine wichtige Verbindung: die Zusammenarbeit von Psychiatrie, Sozialhygiene und Rehabilitationsmedizin. In der DDR waren diese Fachbereiche eng verzahnt, arbeiteten in einem Netzwerk verschiedener Institutionen und beeinflussten die Struktur des Gesundheitswesens maßgeblich.

Sozialhygiene, interdisziplinäre Kooperationen
und politische Rahmenbedingungen

Die Sozialhygiene spielte eine entscheidende Rolle im reformorientierten Gesundheitswesen der DDR. Die meisten Sozialhygieniker waren Mitglieder der SED und standen fest hinter der sozialistischen Idee. Im Umfeld der psychiatrischen Reformer funktionierten die sozialen Disziplinen als wichtige Vorreiter. Das Rodewischer Symposium 1963 markierte den Höhepunkt dieser interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Psychiatern, Sozialhygienikern und Rehabilitationsmedizinern. Dieses Treffen wurde zum Symbol der gemeinsamen Reformbestrebungen.

Dennoch blieben die Sozialhygieniker meist im Hintergrund der fachlichen Diskussionen, auch wenn sie das internationale Setting des Symposiums maßgeblich mitprägten. Die Veranstaltung zeigte, dass die Reformbewegung der DDR in der psychiatrischen Versorgung durchaus vorhanden war, jedoch in einem schwierigen Spannungsfeld zwischen politischen Vorgaben, internationalem Austausch und begrenzten Ressourcen operierte.

Liese-Lotte Eichler, Chefärztin in Brandenburg-Görden, war die erste Psychiaterin, die enge Verbindungen zu Sozialhygienikern und Rehabilitationsmedizinern, insbesondere zu Karlheinz Renker, Professor für Sozialhygiene an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, knüpfte. Sie setzte sich aktiv für den Aufbau eines reformorientierten Netzwerks ein, arbeitete an der Entwicklung der psychiatrischen Rehabilitation und organisierte das erste internationale Symposium in Rodewisch. Dabei war es ihr gelungen, eine Plattform zu schaffen, auf der verschiedene Länder und Fachrichtungen zusammenkamen, um aktuelle Ansätze zu diskutieren und voranzutreiben.

Karlheinz Renker war Mitbegründer der 1954 aus der Gesellschaft für Hygiene der DDR entstandenen Arbeitsgemeinschaft der Sozialhygieniker, die 1957 zur Forschungsgruppe Rehabilitation und 1962 schließlich zur Gesellschaft für Rehabilitation in der DDR (GfR) wurde. Als Vorsitzender definierte er die GfR, die Rehabilitation als zielgerichtete kollektive Tätigkeit in Medizin, Pädagogik, Sozialem und Ökonomie zur Erhaltung, Wiederherstellung und Pflege der Fähigkeiten Geschädigter sowie ihrer aktiven gesellschaftlichen Teilhabe beschreibt. Ende der 1950er Jahre initiierte Renker die Bildung einer Expertenrunde für sozialistische Länder, 1966 gründete er ein „Ständiges Komitee“. 1973 wurde er als Vertreter der sozialistischen Staaten ins Exekutivkomitee von Rehabilitation International (RI) gewählt, und von 1975 bis 1980 leitete er die World Commission for Medical Rehabilitation bei RI.

Fazit:
Ein Meilenstein mit nachhaltiger Wirkung

Die Geschichte der Rodewischer Thesen verdeutlicht, wie interdisziplinär, international vernetzt und zugleich politisch beeinflusst die Reformbestrebungen in der DDR waren. Die Thesen und das Rodewischer Symposium markierten einen bedeutenden Schritt in Richtung einer menschzentrierten, sozial integrierten psychiatrischen Versorgung. Obwohl die flächendeckende Umsetzung scheiterte, beeinflussten sie die Entwicklung der Psychiatrie in der DDR nachhaltig und trugen zum Fortschritt der Reformbewegung bei.

Quellen

Hennings, Lena: Die Entstehungsgeschichte der Rodewischer Thesen im Kontext von Psychiatrie, Sozialhygiene und Rehabilitationsmedizin der DDR, in: Kumbier, Ekkehardt; Steinberg, Holger (Hg.): Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte., Berlin-Brandenburg 2018 (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Bd. 24), S. 237–246.

Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen; Steinberg, Holger: 50 Jahre Rodewischer Thesen – Zu den Anfängen sozialpsychiatrischer Reformen in der DDR, in: Psychiatrische Praxis 40 (6), 2013, S. 313–320.

Weiterführende Literatur

Hennings, Lena: Die Entstehungsgeschichte der Rodewischer Thesen im Kontext von Psychiatrie, Sozialhygiene und Rehabilitationsmedizin der DDR. Med. Diss. Lübeck 2015.

o. A.: Protokoll über die Tagung der Medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie Leipzig am Freitag, dem 2. Oktober 1964 im Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch (Vogtl.), in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 17 (9), 1965, S. 349–352.

Renker, Karlheinz: Rodewischer Thesen. Internationales Symposium über psychiatrische Rehabilitation vom 23.–25.5.1963 in Rodewisch (Vogtl.), in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 11, 1965, S. 61–65.

Baar, Elisabeth: Die Rodewischer Thesen. Ausdruck der Reformbewegung in der Psychiatrie der DDR und ihre weitere Bedeutung, Norderstedt 2009.

Hennings, Lena: Die Rodewischer Thesen und das Symposium über psychiatrische Rehabilitation 1963 in Rodewisch, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 20, 2014, S. 385–409.

Hess, Volker: The Rodewisch (1963) and Brandenburg (1974) propositions, in: History of Psychiatry 22 (86 Pt 2), 2011, S. 232–234.

Lange, Ehrig: Die Rodewischer Thesen 1963 – Vermächtnis und Verpflichtung, Bekenntnis und Verwirklichung, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 31 (7), 1979, S. 385–392.

Neumann, Monika: Ohne Kittel, ohne Titel – die Rodewischer Thesen brachten uns die Sozialpsychiatrie oder: Arbeiter kriegen keine Neurosen, in: Winkler, Regina (Hg.): Wenn die Magnolie blüht. Arbeitsort Herzberge. Eine Dokumentation, Berlin 2001, S. 156–160.

Schmiedebach, Heinz-Peter; Beddies, T.; Schulz, J. u. a.: Offene Fürsorge – Rodewischer Thesen – Psychiatrie-Enquete: Drei Reformansätze im Vergleich., in: Psychiatrische Praxis 27 (3), 2000, S. 138–143.

Späte, Helmut F.: 15 Jahre Rodewischer Thesen, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 25 (7), 1979, S. 552–554.

Späte, Helmut F.: Die Rodewischer Thesen 1963 und 1983 – Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Verantwortung für die Rehabilitation psychisch Kranker, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 35 (2), 1989, S. 106–108.

Steinberg, Holger: Karl Leonhard hat «kein Interesse!» – Hintergründe über das Rodewischer Symposium aus neu aufgetauchten Quellen., in: Psychiatrische Praxis 41 (2), 2014, S. 71–75.

Uhle, Matthias; Weise, Klaus: Zu einigen Entwicklungsfragen psychiatrischer Betreuungsorganisation in der DDR 25 Jahre nach Rodewisch, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 40 (12), 1988, S. 697–703.

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