Ost-West-Kontakte
im Umfeld der Psychiatriereformen

Trotz politischer Gegensätze zeigten sich innerhalb der Psychiatrie Gemeinsamkeitenzwischen in Ost und West, insbesondere im Bereich der sozialen Psychiatrie und bei der Einrichtung sozialpsychiatrischer Dienste. Der hannoversche Psychiatrieprofessor Karl Peter Kisker fasste 1967 zusammen, dass zwischen Psychiatern in der BRD und der DDR eine weitgehende Übereinstimmung bezüglich der Notwendigkeit sozialpsychiatrischer Angebote besteht.

Wissenschaftlicher Austausch und die Beschränkungen durch den Kalten Krieg

Der wissenschaftliche Kontakt war durch strikte Reisebeschränkungen geprägt, insbesondere in der DDR. Diese wurden in den späten 1950er Jahren verschärft, was den Austausch zwischen West- und Ostpsychatern stark einschränkte. Dennoch gab es gewisse Nischen in regionalen Zentren wie Halle und Leipzig, wo Kontakte vor Ort gepflegt wurden. Die Leipziger Klinik war beispielhaft für den lebhaften Austausch, besonders mit Persönlichkeiten wie Klaus Weise, der im Laufe der Jahre immer wieder im Austausch mit westdeutschen Kollegen stand. Die internationalen wissenschaftlichen Treffen zeigten, dass es trotz ideologischer Unterschiede große Gemeinsamkeiten im Fach gab, und eine gegenseitige Wahrnehmung entstand.

Rezeption „westlicher“ Psychiatrie in der DDR

Die DDR-Psychiatrie war grundsätzlich kritisch gegenüber westlichen Ansätzen, vor allem biologisch orientierter Theorien. Dennoch zeigten die Fachzeitschriften, dass es innerhalb der DDR eine lebhafte Debatte gab, bei der einzelne Beiträge die westliche Entwicklung immer wieder rezipierten und thematisierten. Dabei wurden insbesondere sozialpsychiatrische Konzepte, Behandlungsgemeinschaften und reformorientierte Ansätze diskutiert. Es gab eine klare Ablehnung der eher idealistischen oder philosophischen Theorien, während empirische und sozialpsychiatrische Arbeiten positiv aufgenommen wurden.

Entwicklung der Reformpsychiatrie und regionale Zentren

In den 1950er bis 1970er Jahren vollzog sich in der DDR eine kontinuierliche Annäherung an sozialpsychiatrische Prinzipien. Das Pendel schlug zunehmend in Richtung Modernisierung und De-Institutionalisierung, insbesondere in Zentren wie Halle und Leipzig. Helmut Rennert entwickelte beispielsweise eine kultur- und schizophrene Phänomenologie, während Klaus Weise und Achim Thom an sozialpsychiatrischen Konzepten arbeiteten. In Leipzig wurde die sozialpsychatrische Arbeit als marxistisch-leninistische Interpretation einer anthropologischen Psychiatrie gestaltet, wobei die Region eine bedeutende Rolle in einer eigenständigen reformorientierten Bewegung spielte.

Westdeutsche Psychiatrie – Interesse trotz politischer Barrieren

Trotz der politischen Feindseligkeiten bestand reges Interesse westdeutscher Psychiater am Austausch mit der DDR. Bereits in den 1960er Jahren nahmen Psychiater aus Ländern wie Deutschland, Österreich, den USA und Großbritannien an Konferenzen teil. Dabei wurde die gemeinsame Orientierung an sozialpsychiatrischen Ansätzen deutlich, wenngleich die politische Situation den Austausch stark einschränkte. Die Teilnahme an Tagungen wurde oft nur aus fachlichen Gründen genehmigt, jedoch war die Offenheit durch die Politik kontrolliert.

Gegenseitige Wahrnehmung und fachliche Differenzen

In den 1960er und 1970er Jahren war die Wahrnehmung des Fachs zwischen Ost- und Westdeutschland geprägt von einer gewissen gegenseitigen Ablehnung und Kritik. Besonders im Westen stießen die sozialpsychiatrischen Ansätze auf Skepsis, während die DDR eine gewisse Bewunderung für die reformorientierten Bewegungen zeigte. Dennoch dominierten in beiden Ländern ähnliche fachliche Grundkonzepte, wobei politische und ideologische Differenzen eher im Diskurs sichtbar wurden. Es gab eine Art „Einheit in der Grundhaltung“, die den Eindruck einer gemeinsamen deutsch-deutschen psychiatrischen Kultur vermittelte.

Fazit

Die psychiatrische Entwicklung war in beiden deutschen Staaten von inneren Konflikten, ideologischen Spannungen und einem regen wissenschaftlichen Austausch geprägt war. Trotz der politischen Trennung blieb das Fach durch gemeinsame theoretische Grundlagen, gegenseitige Wahrnehmung und Kooperation verbunden. Während die DDR zwischen den 1950er und 1970er Jahren versuchte, eine sozialistisch orientierte Psychiatrie zu etablieren — geprägt von sozialpsychiatrischer Reformbewegung, De-Institutionalisierung und marxistisch-leninistischer Interpretation —, blieb die westdeutsche Psychiatrie ebenfalls im Wandel, vor allem durch die Spätphase der Reformbewegungen, die etwa Klaus Dörner und Erich Wulff maßgeblich prägten.

Das gegenseitige Interesse an Theorie und Praxis zeigte, dass trotz der hohen politischen Spannungen im Kalten Krieg wissenschaftliche und fachliche Austauschprozesse robust geblieben sind. Allerdings beschränkten sich diese meist auf einzelne Forscher, regionale Zentren oder Fachkongresse, da die politische Kontrolle und die restriktiven Reisebestimmungen eine intensivere Kooperation erschwerten. Insbesondere in den 1960er Jahren lassen sich Gemeinsamkeiten in den reformorientierten Ansätzen beider deutscher Staaten erkennen, die trotz ideologischer Unterschiede eine geteilte Vision von einer modernen, patientenorientierten Psychiatrie widerspiegelten.

Auch nach den ersten vorsichtigen Annäherungen in den 1960er Jahren wurden die Grenzen der Zusammenarbeit in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren schärfer sichtbar. Die zunehmende politische Polarisierung, gekoppelt mit wachsender Kritik an den bestehenden psychosozialen Modellen, führte dazu, dass die internationale, fachliche Verständigung zunehmend erschwert wurde. So war beispielsweise die Ablehnung einer Beteiligung westdeutscher Psychiater an der DDR-Fachkongress in den 1970er und frühen 1980er Jahren Ausdruck der politischen Spannungen. Dieses Spannungsfeld zwischen gemeinsamer fachlicher Tradition und staatlicher Gegnerschaft blieb bis zur Wendezeit bestehen.

Die psychiatrische Entwicklung war in beiden deutschen Staaten stark durch die jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Bedingungen beeinflusst wurde. Die inneren Konflikte innerhalb des Fachs, die unterschiedlichen Verständnisse von Krankheit und Heilung sowie die politischen Vorgaben schufen eigene Konfigurationen, die zwar voneinander beeinflusst waren, sich aber auch eigenständig entwickelten. Trotz aller Trennungen ist die gemeinsame fachliche Basis deutlich sichtbar, und die gegenseitigen Kontakte haben maßgeblich zur Weiterentwicklung der Psychiatrie in beiden Teilen Deutschlands beigetragen. Die Forschung zur „deutsch-deutschen Psychiatrie“ zeigt somit, wie Wissenschaft unter Macht- und Ideologieeinflüssen gedeiht, sich aber auch durch Austausch und gemeinsame Anliegen formt und verändert.

Quelle

Beyer, Christof: Sozialpsychiatrischer Transit. Kontakte zwischen Psychiatern in Ost und West im Umfeld der bundesdeutschen Psychiatriereform, in: Kumbier, Ekkehardt; Steinberg, Holger (Hg.): Psychiatrie in der DDR. Beiträge zur Geschichte., Berlin-Brandenburg 2018 (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Bd. 24), S. 221–233.

Weiterführende Literatur

Beyer, Christof: Deutsch-deutsche «Reforminseln». Sozialpsychiatrischer Austausch zwischen BRD und DDR, in: Strauß, Bernhard; Erices, Rainer; Guski-Leinwand, Susanne u. a. (Hg.): Seelenarbeit im Sozialismus. Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie in der DDR, Gießen 2022, S. 61–69.

Weise, Klaus: Psychiatrische Erfahrungen in zwei Systemen, in: Urbahn, Theiß (Hg.): Gute Psychiatrie in schlechten Zeiten?: Aussichten der Psychiatriereform im Spannungsfeld von Fachlichkeit, Ethik und ökonomischen Interessen, Gütersloh 1999, S. 51–61.

Trenckmann, Ulrich: Vom Unterschied der Sozialpsychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, in: Hippius, Hanns; Lauter, Hans; Ploog, Detlev u. a. (Hg.): Rehabilitation in der Psychiatrie, Berlin, Heidelberg 1989, S. 224–227.

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