
Zwischen Aufbruch und Stagnation –
Die Brandenburger Thesen zur „Therapeutischen Gemeinschaft“ (1974/76)
Die psychiatrische Versorgung in der DDR war lange durch eine konservative und auf Verwahrung ausgerichtete Tradition geprägt. 1963 gab es mit den Rodewischer Thesen erste Bestrebungen, die Verwahrpsychiatrie zu überwinden. Diese Ansätze wurden nur in begrenztem Maße umgesetzt, da finanzielle Mittel fehlten. Zudem gab es Widerstände von staatlicher Seite, der Universitätspsychiatrie und von Fachgesellschaften.
Der Weg der Reformversuche
In den 1960er Jahren begannen einzelne Kliniken, reformorientierte Konzepte zu entwickeln. Dabei spielte die Idee der „Therapeutischen Gemeinschaft“ eine zentrale Rolle. Dieses Konzept, das von Maxwell Jones Anfang der 1950er Jahre formuliert wurde, basiert auf partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Therapierenden und Patienten. Hierbei sollte die hierarchische Ordnung in den Kliniken abgebaut, die aktive Beteiligung des Patienten gefördert und das Milieu des Hauses als Lern- und Gemeinschaftsort genutzt werden.
In der DDR wurde vor allem in der Bezirksnervenklinik Brandenburg an der Havel versucht, diese Prinzipien anzuwenden und weiterzuentwickeln. Ab den 1970er Jahren entstand dort eine Atmosphäre des Aufbruchs, die reformorientierte Gedanken in der psychiatrischen Praxis zu stärken versuchte.
Gesellschaftspolitischer Kontext in den 1970er Jahren
Der gesellschaftliche Rahmen in der DDR veränderte sich mit dem Beginn der 1970er Jahre deutlich. Nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 wurde eine Phase der Entspannung eingeleitet. Nicht mehr allein die Lehre des Sozialismus stand im Mittelpunkt, sondern die Entwicklung der „sozialistischen Persönlichkeit“. Mit Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen sollten soziale Wohlfahrt und Gesundheitsversorgung verbessert werden.
Der innereuropäische Wandel, insbesondere die Ostpolitik der DDR, führte zur Annäherung an die Bundesrepublik Deutschland. Mit dem Grundlagenvertrag von 1972, der Anerkennung in der UNO 1973 und wachsender internationaler Integration versuchte die DDR, auch ihre inneren Strukturen zu reformieren. Gleichzeitig blieb die Sorge, dass sozialistische Prinzipien durch westeuropäische Einflüsse untergraben werden könnten, bestehen. Das Misstrauen gegenüber den aus dem Westen kommenden sozialpsychiatrischen Ansätzen war groß. Diese wurden als ideologisch gefährlich und potenziell oppositionell gewertet.
Die Entstehung der „Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft“
Im Kontext dieser Entwicklungen entstand 1974 die „Brandenburger Thesen“. Bei einer Tagung der Sektion Rehabilitation der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie wurde in Brandenburg an der Havel eine Reihe von Reformideen formuliert, die auf Maxwell Jones’ Prinzipien aufbauten. Ziel war es, die Behandlungssituation in den psychiatrischen Kliniken grundlegend zu verändern.
Die Thesen forderten, Bedingungen in den Kliniken zu prüfen und hierarchische Strukturen zu überwinden. Es sollte eine „Therapeutische Gemeinschaft“ geschaffen werden, in der Patienten aktiv am Heilungsprozess beteiligt werden. Das Ziel war, die Kliniken in soziale Gemeinschaften umzuwandeln, in denen der Patient nicht nur passiv behandelt, sondern als aktives Subjekt eingebunden wird. Dabei sollte die soziale Reintegration im Mittelpunkt stehen.

Die kontroverse Diskussion und die politische Einbindung
Die Brandenburger Thesen lösten in der DDR eine kontroverse Debatte aus. Anfangs wurden sie als Diskussionsgrundlage veröffentlicht und von Fachleuten diskutiert. Die ursprüngliche Version des Dokuments, 1974 vorgestellt (Abb. 2), behielt noch Kritik an der gesellschaftlichen Verantwortung. In der späteren, 1976 veröffentlichten Version wurde diese Kritik deutlich abgeschwächt. Die Thesen wurden so formuliert, dass sie eher innerhalb der Kliniken ansetzten und keine fundamentalen gesellschaftlichen Umwälzungen fordern.
Die politischen Verantwortlichen sahen in der Idee der „Therapeutischen Gemeinschaft“ eine potenzielle Gefahr für die sozialistische Gesellschaftsordnung. Besonders die Forderung nach einem Rollenwechsel des Patienten vom „passiven Objekt“ zum „aktiven Subjekt“ war umstritten, da sie die hierarchische Ordnung in der Klinik und die Autorität der Therapeuten infrage stellte. Einige Vertreter, etwa Hans Eichhorn, hielten die „Therapeutische Gemeinschaft“ für utopisch – ein Versuch, die spätbürgerliche, individuelle Psychiatrie zu reformieren, der im sozialistischen System keinen Platz habe. Das führte zu politischen Abwehrreaktionen und einem restriktiven Umgang mit der Umsetzung.
Dennoch führten die Thesen zu einigen positiven Entwicklungen. Es wurden vermehrt sozialpsychiatrische Aspekte in die Ausbildung des Pflegepersonals integriert, und es entstanden neue Fortbildungsangebote. Die Ideen beeinflussten auch die Praxis auf der Ebene der unteren Hierarchieebenen und trugen dazu bei, die Einstellung vieler Mitarbeiter gegenüber den Patienten zu verändern. Allerdings blieb die tatsächliche Umsetzung auf eine begrenzte sektoriöse Ebene beschränkt und konnte die bestehenden Hierarchien kaum grundlegend aufbrechen.
Politische und soziale Grenzen
Der gesellschaftliche Rahmen in der DDR war durch zahlreiche Widersprüche geprägt. Die offizielle Ideologie setzte auf Kollektivierung, Kontrolle undNormen der Disziplin — dies stand im Gegensatz zu den Prinzipien der „Therapeutischen Gemeinschaft“. Der Wunsch, therapeutische Konzepte an die sozialistische Gesellschaft anzupassen, führte zu der Annahme, dass die „Therapeutische Gemeinschaft“ im Prinzip bereits durch die sozialistische Arzt-Patient-Beziehung verwirklicht sei.
Zugleich verdeutlicht die Entwicklung, dass tatsächliche Veränderungen in der psychiatrischen Versorgung nur sehr eingeschränkt erfolgen konnten. Die wissenschaftliche Diskussion wurde zunehmend durch politische Vorgaben beeinflusst. Kritische Stimmen und alternative Ansätze, wie die antipsychiatrischen Bewegungen aus dem Westen, wurden kaum zugelassen. Offene Debatten und die Implementierung der Prinzipien blieben begrenzt, da die politische Führung die Kontrolle über die Reformen streng wahrte.
Fazit
Die Brandenburger Thesen markieren einen wichtigen Versuch, die Psychiatrie in der DDR reformorientiert zu modernisieren. Sie griffen die Idee auf, die Hierarchien zwischen Patienten und Therapeuten abzubauen und die Behandlung sozialer, gemeinschaftlicher Formen zugänglich zu machen. Obwohl die tatsächliche Umsetzung nur begrenzt möglich war und die Diskussion stark durch gesellschaftliche und politische Faktoren beeinflusst wurde, trugen die Thesen zu einer bewussteren Reflexion über die Rolle der Psychiatrie bei. Das psychiatrische Krankenhaus mit seinen überwiegend custodialen und ausgrenzenden Strukturen wurde weiterhin als zentrale und führende Einrichtung anerkannt. Das Ziel bestand darin, das bestehende System zu optimieren, anstatt es grundsätzlich zu überwinden.
Letztlich spiegeln die Thesen die Ambivalenz wider: Einerseits den Wunsch nach humaner, sozial integrierender Versorgung, andererseits den Versuch, innerhalb eines eingezäunten politischen Systems reformistische Ansätze zu verwirklichen. Die Erfahrungen zeigen, wie schwer es ist, tiefgreifende gesellschaftliche und institutionelle Veränderungen durchzusetzen, wenn diese im Widerspruch zu bestehenden Machtstrukturen stehen. Die Brandenburger Thesen sind somit ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der DDR-Psychiatrie – ein Symbol für den always ongoing Aufbruch, der häufig an den Grenzen des Machbaren scheiterte.
Quellen
Späte, Helmut F.; Schirmer, Siegfried; Müller, Karl: Auf dem Wege zur therapeutischen Gemeinschaft, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 25 (10), 1973, S. 591–598.
Schirmer, Siegfried; Müller, Karl; Späte, Helmut F.: Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 28 (1), 1976, S. 21–25.
Späte, Helmut F.; Thom, Achim; Weise, Klaus: Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft von 1976, in: Medizin und Gesellschaft 15, 1982, S. 171–176.
Weiterführende Literatur
Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen: Psychiatrie in der DDR zwischen Aufbruch und Stagnation: Die Brandenburger Thesen zur „Therapeutischen Gemeinschaft“ (1974/76), in: Psychiatrische Praxis 44 (8), 2017, S. 434–445.
Kumbier, Ekkehardt; Haack, Kathleen: Die Therapeutische Gemeinschaft und das Arzt-Patient-Verhältnis in der Psychiatrie. Zwischen therapeutischem Anspruch und sozialistischer Realität., in: Wahl, Markus (Hg.): Volkseigene Gesundheit: Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR, Stuttgart 2020 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beihefte 75), S. 111–133.