
Justiz und Aufarbeitung
der NS-„Euthanasie“-Verbrechen in der SBZ und DDR
Zwischen 1939 und 1945 starben über 250.000 psychisch kranke, körperlich behinderte und fürsorgebedürftige Menschen durch organisierte Tötungen im Rahmen des so genannten „Euthanasie“-Komplexes.
Beginn der Strafverfolgung nach 1945
Die polizeiliche und juristische Aufklärung gestaltete sich schwierig. Viele Täter waren in mehreren Anstalten sowie in Vernichtungslagern in Polen tätig gewesen. Zudem waren einige geflohen, verstorben oder hatten Selbstmord begangen. Die Akten waren teilweise durch Kriegseinwirkung vernichtet worden. Die alliierten Besatzungsmächte legten ab 1945 die Grundlage für die Strafverfolgung durch Kontrollratsgesetze, vor allem das KRG Nr. 10, das die Anzeige von Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit regelte. Deutsche Gerichte wurden wieder eröffnet, allerdings unter Kontrolle der Besatzungsmächte.
Prozesse gegen NS-„Euthanasie“-Täter
In den ersten Jahren nach 1945 wurden mehrere Prozesse vor Militärgerichten geführt, wie die Nürnberger Nachfolgeprozesse und die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse. Insbesondere die Prozesse gegen Ärzte und Pflegepersonal in Tötungszentren wie Hadamar, Grafeneck, Bernburg oder Schloss Sonnenstein setzten erste Akzente. Der Nürnberger Ärzteprozess 1946–1947 beschäftigte sich zunächst mit medizinischen Menschenversuchen, enthielt aber auch Anklagen wegen Krankenmordes. Hier wurden bekannte Täter wie Karl Brandt, Viktor Brack, Kurt Blome und Herta Oberheuser verurteilt oder freigesprochen.
Verfolgung in der SBZ und DDR
Die ersten Verfahren liefen vor sowjetischen Militärtribunalen (SMT), bei denen einige Täter bereits ohne Rechtsverfahren inhaftiert oder freigelassen wurden. Nach der Einführung formeller strafrechtlicher Verfahren mit dem Erlass des Kontrollratsgesetzes (Nr. 10) wurden Prozesse vor sowjetischen Militärrichtern oder später vor DDR-Gerichten geführt. Dabei wurden meist Angehörige des Pflegepersonals und nur wenige Ärzte angeklagt und verurteilt.
Bei einigen Verfahren, etwa in Schwerin (Abb. 1), Dresden oder Magdeburg, wurden Verantwortliche zu mehreren Jahren Haft oder sogar zum Tode verurteilt. Ein Beispiel ist das Verfahren gegen Erich Spo. in Magdeburg 1948, der wegen Beihilfe zu Mord im Zuchthaus Haftstrafe erhielt. Auch der Arzt Richard von Hegener wurde verurteilt, wenn auch erst 1949, nachdem seine Falschidentität aufgedeckt worden war. Die Waldheimer Prozesse 1950 markierten den Höhepunkt der Verfolgung. Hier wurden mehrere Ärzte und Pflegekräfte in Schnellverfahren verurteilt; viele wurden hingerichtet oder erhielten lange Haftstrafen. Eine Reihe von Verurteilungen wurde später durch Amnestien aufgehoben.

Systemwechsel und Vertuschung
Seit den späten 1950er Jahren ließ das Interesse an der strafrechtlichen Verfolgung nach. Die DDR versuchte, die NS-Verbrechen aufzuklären, allerdings blieben viele Hauptverantwortliche unbestraft, weil sie bereits verstorben, geflohen oder in der DDR noch unerkannt waren. Zudem wurden NS-Vergangenheit von Ärzten oft verschwiegen, um Fachkräfte im Gesundheitswesen zu schützen und das Image des Staates zu wahren. Die DDR führte kaum Verfahren gegen Ärzte, die an der „Euthanasie“ beteiligt waren, gerade weil das eine Bedrohung für das Selbstbild des „antifaschistischen“ Staates gewesen wäre. Eine Ausnahme bildete der Prozess gegen Otto Hebold zwischen 1964 und 1965, der aufgrund eines Rechtshilfegesuchs der hessischen Staatsanwaltschaft ins Visier der DDR-Ermittler geriet. Hebold wurde zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt.
Politische Einflussnahme und Zusammenarbeit
Die DDR agierte aktiv in der Strafverfolgung im Westen, um die eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren. Sie lieferte Beweismaterial, trat als Nebenkläger auf und nutzte Prozesse propagandistisch gegen den Westen. Viele Ermittlungen endeten jedoch ohne Verurteilung, da Beweislast und politische Interessen die Aufklärung einschränkten.
Fazit
Die DDR beanspruchte, die Aufarbeitung der Verfolgung der NS-„Euthanasie“-Verbrechen gründlich durchgeführt zu haben. Doch in der Praxis blieb die strafrechtliche Aufarbeitung unvollständig. Viele Täter entkamen der Justiz, weil sie bereits verstorben, in den Westen geflohen oder aus anderen Gründen nicht erreichbar waren. Zudem wurde die tatsächliche Verantwortlichkeit häufig verwischt oder vertuscht. Die politischen und gesellschaftlichen Interessen – sowohl in der Frühphase der Aufarbeitung als auch während des Kalten Krieges – führten dazu, dass die volle Wahrheit nur teilweise ans Licht kam. Die fundamentale Verantwortung der Täter wurde vielfach bewusst ignoriert und vertuscht, Verantwortlichkeiten in Ost wie West eine „Schlussstrichmentalität“ geopfert.
Quelle
Schweizer-Martinschek, Petra: „Die Strafverfolgung von NS-„Euthanasie“-Verbrechen in SBZ und DDR, in: Kumbier, Ekkehardt; Steinberg, Holger (Hg.): Psychiatrie in der DDR, 2018 (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte 24), S. 55–68.
Weiterführende Literatur
Hohmann, Joachim S.; Wieland, Günther: MfS-Operativvorgang «Teufel»: «Euthanasie»-Arzt Otto Hebold vor Gericht, Berlin 1996.
Erices, Rainer: Fehlende Aufarbeitung. Zwangssterilisationen in Leipzig in der NS-Zeit und der spätere Umgang damit, in: Kumbier, Ekkehardt; Steinberg, Holger (Hg.): Psychiatrie in der DDR., 2018 (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte 24), S. 69–77.
Haack, Kathleen: «Letzter Wohnort Kosmanos»: zwangsevakuierte Psychiatriepatienten in der Landesheilanstalt Ueckermünde, in: Kumbier, Ekkehardt; Steinberg, Holger (Hg.): Psychiatrie in der DDR., 2018 (Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte 24), S. 39–53.
Haack, Kathleen; Kasten, Bernd; Pink, Jörg: Die Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg-Lewenberg 1939–1945, Schwerin 2016 (Erinnerungsorte in Mecklenburg-Vorpommern 2).
Haack, Kathleen: „Kindereuthanasie“ in Mecklenburg (1941–1945) – Die Kinderfachabteilung Lewenberg-Sachsenberg (Schwerin)., in: Der Festungskurier (Beiträge zur Mecklenburgischen Landes- und Regional-geschichte vom Tag der Landesgeschichte 2014) 15, 2015, S. 77–94.
https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/entnazifizierung-nazis-in-der-ddr-100.html (05.08.2025).