
Kurt Gottschaldt (1902 – 1991)
Psychologe und Hochschullehrer in der DDR
Kurt Gottschaldt nimmt in der Entwicklungsgeschichte der Psychologie in der DDR vor allem als erster Leiter des Instituts für Psychologie der Humboldt-Universität Berlin eine zentrale Rolle ein, welches er zwischen 1949 und 1961 zu einem der seinerzeit größten und leistungsfähigsten Psychologischen Institute in Europa ausbaute. Gottschaldts Berufs- und Lebensweg in der DDR endete 1962 abrupt mit seiner Flucht in den Westen.
Sozialisation und Ausbildung
Kurt Gottschaldt wird 1902 in Dresden als Sohn eines Kaufmanns geboren. Nach Besuch von Bürgerschule und Realgymnasium nimmt er 1920 an der Universität Berlin zunächst ein Studium der Physik und Chemie auf, wendet sich dann jedoch – inspiriert von den Theorien des damals international bekannten Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler – dem Studium der Philosophie und Psychologie zu. Als Assistent Köhlers am Berliner Psychologischen Institut promoviert Gottschaldt 1926 mit einer Untersuchung über den Einfluss der Erfahrung auf die Wahrnehmung von Figuren. 1932 folgt seine Habilitation mit einer Schrift, in der er eigene Methoden zur Diagnostik von „schwachsinnigen“ und normalen Kindern vorstellt.
Politische Orientierung
Kurt Gottschaldt nimmt zeitlebens die Rolle eines ‘parteilosen bürgerlichen Wissenschaftlers‘ ein, der weder die Nähe zum Nationalsozialismus noch jene zum in der DDR vorherrschenden Sozialismus sucht. Gleichwohl versteht er es, sich dem jeweiligen politischen System anzudienen – mit dem Ziel, seine Wissenschaft möglichst ungestört be- und vorantreiben zu können. So bringt ihm seine distanzierte Haltung zum Nationalsozialismus unmittelbar nach Kriegsende eine Berufung als Professor mit Lehrauftrag für Psychologie an die neu begründete Humboldt-Universität zu Berlin ein; wenig später wird ihm ebenso die Leitung der dortigen Pädagogischen Fakultät zugesprochen. Protegiert von der DDR-Führung und dank seines eigenen Organisationstalents kann Gottschaldt seine Macht- und Forschungsbasis während der 1950er Jahre weitestgehend unbehelligt weiter ausbauen, sogar seine Verbindungen in den Westen aufrechterhalten. Einen Wendepunkt beschwört die 3. Hochschulkonferenz im Februar 1958 herauf, auf der eine Umlenkung der psychologischen Forschung und Ausbildung auf die Bedürfnisse des Sozialismus, die Erweiterung des Wissens um die Sowjetpsychologie und die Verstärkung der Parteigruppen in den psychologischen Instituten eingefordert wird. In der Folge wird von Gottschaldt vermehrt eine Abkehr von der von ihm gelehrten Gestaltpsychologie gefordert; gleichzeitig ist die SED-Führung weiterhin zu fast allen Konzessionen und Förderungen an diesen bereit, um ihren zu diesem Zeitpunkt bedeutendsten DDR-Psychologen nicht an den Westen zu verlieren. Es hilft alles nichts: Als Gottschaldt 1961 einen Ruf von der Universität Göttingen erhält, bittet er um seine Entlassung – und flüchtet, nachdem ihm die Ausreise in den Westen von staatlicher Seite über Monate hinweg verwehrt wird, im Februar 1962 über die innerdeutsche Grenze.
Beruflicher Werdegang
Nach erfolgreicher Promotion im Jahr 1926 und einer anschließenden dreijährigen Assistenzstelle am Berliner Psychologischen Institut wechselt Kurt Gottschald 1929 nach Bonn, um dort die Leitung der Psychologischen Abteilung an der Rheinischen Provinzialanstalt für seelisch Abnorme zu übernehmen. Ab 1935 tritt Gottschaldt die Leitung der neugegründeten „Erbpsychologischen Abteilung“ des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin an; gleichzeitig übernimmt er die Leitung der Poliklinik für nervöse und schwer erziehbare Kinder am Kinderkrankenhaus Berlin-Wedding. 1938 erhält er eine außerordentliche Professur an der Universität Berlin.
Nach der Wiedereröffnung der Berliner Universität 1946 wird Kurt Gottschaldt zum ordentlichen Professor und Direktor des Instituts für Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) berufen, das er in den Folgejahren zur leistungsfähigsten Lehr- und Forschungseinrichtung innerhalb der DDR ausbaut. Hier gelingt es ihm auch, seine bereits während der NS-Zeit begonnene Zwillingsforschung zu Grundfragen der Entwicklungs- und Verhaltensgenetik fortzuführen – unterstützt von beiden deutschen Staaten.
1954 sorgt Kurt Gottschaldt als Herausgeber für das Wiedererscheinen der nach dem Zweiten Weltkrieg vorübergehend eingestellten „Zeitschrift für Psychologie“. Das ist die zweitälteste Fachzeitschrift für Psychologie der Welt und die älteste in Europa. Sie erscheint auch heute noch.
Zusätzlich zu seiner bisherigen Leitungsposition übernimmt Gottschaldt von 1955 bis 1959 ebenfalls das Dekanat der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät an der HU Berlin. 1953 wird er überdies ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW), ab 1955 Leiter der in seinem Institut untergebrachten DAW-Abteilung für experimentelle und angewandte Psychologie. 1959 wird er als erster DDR-Psychologe in den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie gewählt.
Nach mehreren personellen Konflikten innerhalb des Psychologischen Instituts legt Gottschaldt 1960 sein Lehramt an der HU Berlin nieder, bevor er 1962 einem Ruf an die Universität Göttingen folgt – per Flucht in den Westen.
Fachpolitisches Engagement
Geprägt von seinen Lehrern Max Wertheimer und Wolfgang Köhler, bei denen er sich mit den Theorien der Gestalttheorie auseinandersetzt, vertritt Kurt Gottschaldt zeitlebens die Auffassung, dass holistisch-ganzheitliches Denken und strenge naturwissenschaftliche Theoriebildung durchaus kompatibel sind. Diese Überzeugung vertritt er sowohl während seiner Arbeit im Nationalsozialismus als auch während seines Wirkens in der DDR. Darüber hinaus ist es ihm ein grundsätzliches Anliegen, die Psychologie in Forschung und Lehre vor der ideologischen Vereinnahmung durch die Staatsmacht zu schützen bzw. seine Wissenschaft ohne staatliche Beeinflussung ausüben zu können. Einen Teilerfolg kann Gottschaldt diesbezüglich immerhin bei der der von ihm betriebenen Zwillingsforschung verzeichnen, der er mit der Unterstützung beider deutschen Staaten nachgehen kann. Zudem wird er 1959 als erster DDR-Psychologe überhaupt in den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie gewählt.
Sein Beharren auf einer autonomen Wissenschaftsarbeit, aber auch sein Widerstand gegen die gewünschte Etablierung einer marxistisch eingefärbten Psychologie führt letztlich jedoch zu einem sich ausweitenden Zerwürfnis mit der SED-Führung – und der zunehmenden Isolierung Gottschaldts innerhalb des von ihm aufgebauten Instituts für Psychologie an der HU Berlin.
Wir haben ihm, jedenfalls in meiner Generation, viel zu verdanken, insbesondere deshalb, weil er die seinerzeitige Pawlow-Diskussion, die in der Sowjetunion stattfand und ganz schwere Verwerfungen der Psychologie verursacht hat, nicht in Berlin Fuß fassen ließ.
Friedhart Klix über Kurt Gottschaldt, in: Busse, S. (1996). Psychologie im Real-Sozialismus. DDR-Psychologen im Interview (Bd. 1). Centaurus, S. 137.Quellenangaben
Hoffmann, D., & Macrakis, K. (Hrsg.). (1997). Kurt Gottschaldt (1902–1991) und die psychologische Forschung vom Nationalsozialismus zur DDR – konstruierte Kontinuitäten. In Naturwissenschaft und Technik in der DDR (S. 337–360). Akademie Verlag. https://doi.org/10.1515/9783050072555-016
Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin. (2011, Dezember 7). Ära GOTTSCHALDT (1946-1961). Institutsgeschichte. https://www.psychologie.hu-berlin.de/de/institut/geschichte/gottschaldt